Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
Herzen jedoch, selbst in diesem Augenblick, glaubte mein Vater immer noch, alles, was uns passierte, sei nichts als ein Missverständnis. Es musste ein niederschmetternder Moment für meine Mutter sein.
    »Hattet ihr nicht etwas von Frühstück im Zug gesagt?«, fragte ich schließlich.
    Papa gab mir eine Stulle aus seiner Aktentasche; ihm und Mamu war der Appetit offenbar vergangen. Ich sah aus dem Fenster, während sie sich anschwiegen, aber von Onkel Erik war nichts zu sehen. Bestimmt hatte er unsere Begegnung mit dem Wiesel verfolgt und beschlossen, sich lieber aus dem Staub zu machen.
    »Können wir es dabei bewenden lassen, dass der Mann uns vielleicht helfen wollte?«, fing Papa noch einmal an und ich hörte Mamu bissig antworten: »Solange du nicht vorhast, ihn deswegen in die Familie aufzunehmen …!«
    In diesem Moment klopfte es an unsere Abteiltür. Es klopfte leise und keineswegs so, wie man es von den Nazis kannte, aber unwillkürlich fuhren wir zusammen und blickten uns erschrocken an. Onkel Erik? Nein, er würde nicht so verrückt sein, in den Zug zu kommen! Nach einigen Sekunden klopfte es erneut und mein Vater stand auf, um die Tür einen winzigen Spalt zu öffnen. Ich konnte sehen, mit welcher Mühe er sich auf einmal bewegte und dass meine Mutter komplett vergessen zu haben schien, wie man atmete.
    Das genügte mir. Noch bevor Papa den Türgriff in der Hand hatte, sprang ich vom Sitz und riss das Fenster auf. Kalte Luft schlug mir entgegen; mehrere Kinder, die gerade am Zug vorbeigeführt wurden, blickten verdutzt, als plötzlich ein Bein aus dem Fenster hing.
    »Gott sei Dank, Sie haben es auch geschafft! Mein Sohn behauptete, Sie seien hier im Abteil, aber ganz sicher waren wir nicht …«
    Papa antwortete nicht, aber öffnete weit die Tür und hindurch schob sich der bärtige Mann, der vorhin mit uns zusammen gefilzt worden war. Frau und Sohn hatte er im Schlepp. Ich beeilte mich, mein Bein wieder zurückzuschwingen, aber natürlich hatten sie es gesehen und die Frau begann sich sofort zu entschuldigen, dass ihr Klopfen uns erschreckt hatte.
    Ihr Mann durchmaß in zwei Schritten das Abteil und legte mir eine Hand auf den Arm. »Wo wir hingehen«, sagte er mit warmer Stimme, »brauchen wir vor einem Klopfen keine Angst mehr zu haben.«
    Ich lief dunkelrot an vor Verlegenheit. Am liebsten hätte ich erklärt, dass meine Beine und Arme bisweilen komische Einfälle hatten. Aus dem dritten Stock oder aus Zügen springen zum Beispiel, und ganz ohne mein Zutun.
    Sie stellten sich vor. Die Familie hieß Konitzer, Victor, Irma und Mischa Konitzer. Mischa war der zwölfjährige Sohn, der sich einen Weg zu mir ans Fenster bahnte.
    »Was ist denn da draußen los?«, wunderte er sich statt einer Begrüßung.
    An unserem Zug gingen immer noch Kinder vorbei, paarweise und dicht nebeneinander, eine schweigende, bedrückte Schar mit Pappschildern um den Hals. Einige Kinder weinten. Eltern waren nicht zu sehen. Aufsichtspersonen verteilten alle auf die Waggons, die am Gleis uns gegenüber standen. Ich ertappte mich dabei, wie ich anfing, nach Bekka Ausschau zu halten, obwohl sie und Thomas doch noch gar nicht dabei sein konnten.
    »Ich weiß, was das ist«, sagte ich leise. »Die müssen alle nach England. Das ist ein Kindertransport.«
    »Mach das Fenster zu, Ziska«, ordnete Mamu an und Mischas Mutter zog ihren Sohn am Arm von mir weg.
    »Aber Onkel Erik …?«, protestierte ich.
    »Der hat hoffentlich das einzig Vernünftige getan und das Weite gesucht! Ich möchte wissen«, fügte meine Mutter unruhig hinzu, »warum der Zug nicht endlich abfährt!«
    Konitzers setzten sich uns gegenüber auf die zweite der beiden Sitzbänke, die man zu einer Liege umklappen konnte. »Glauben Sie, das ist vielleicht nur ein Scherz?«, flüsterte Frau Konitzer. »Dass sie uns ausreisen lassen, meine ich. Vielleicht haben sie gar nicht die Absicht.«
    Aus dem Zugfenster gegenüber starrten mich einige Kinder an, ohne zu lächeln.
    »Ach was, ein Scherz! Daran glaube ich nicht!«, antwortete Mamu mit fester Stimme.
    Aber als der Zug sich gleich darauf mit einem Ruck in Bewegung setzte, durchfuhr sie ein Schauer und sie schlug vor Erleichterung die Hände vors Gesicht.
    »Dem Allmächtigen sei Dank!«, rief Herr Konitzer.
    »Langsam, noch sind wir in Berlin!«
    »Aber wir rollen, liebe Freunde, wir rollen!«
    Ich drückte mich an die Wand neben meinem Sitzplatz. So sehr ich mich für Konitzers freute, dass sie wie wir dem Wiesel
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher