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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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China!«
    »Jüdische Führerscheine werden eingezogen!«
    »Hört ihr? Wir gehen genau zur rechten Zeit«, meinte Papa.
    Aber die meiste Zeit schwiegen meine Eltern; sie hatten die Koffer zwischen uns gestapelt und behielten die Umgebung im Auge. Onkel Erik hatte sich von uns getrennt, um den wachsamen Augen der Uniformierten, die wichtigtuerisch zwischen den Reisenden umherstolzierten, kein Ziel zu bieten. Da er sich nicht verabschiedet hatte, vermutete ich, dass er noch irgendwo im Bahnhof war und erst direkt vor unserer Abfahrt an den Zug kommen würde.
    Eingeklemmt zwischen Erwachsenen, die fröstelnd von einem Fuß auf den anderen traten, saß ich auf unserem Gepäck, ohne viel mehr zu sehen als das Dach der Halle. Der Ruf der Zeitungsjungen, die Lautsprecherdurchsagen, die fremden Stimmen um mich herum und das Trappeln unzähliger Füße mischten sich in meinem Kopf zu einem dichten Brausen. In regelmäßigen Abständen hörte ich den Signalpfiff und das gemütliche Davonpuffen einer Dampflok; ein Geruch nach Kohlenfeuer zog bis in die Wartehalle.
    Bekka geht gleich aus dem Haus, dachte ich und stellte mir vor, wie sie zum ersten Mal ohne mich in die S-Bahn stieg, die uns zur jüdischen Schule nach Charlottenburg brachte. Die letzte von uns dreien! Ruben Seydenstickers Familie hatten die Deutschen im Oktober nach Polen abgeschoben und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wo unser Klassenkamerad in diesem Augenblick war. Auch Ruben kannte Polen nicht; seine Großeltern waren schon vor langer Zeit nach Deutschland ausgewandert, und ich hoffte für ihn, dass er sich wenigstens noch mithilfe der seltsamen Sprache unterhalten konnte, die ich bei Seydenstickers zum ersten Mal gehört hatte.
    Standhaft hatte Ruben behauptet, dass es sich bei Jiddisch um unsere Sprache handelte, mit der wir uns überall auf der Welt verständigten. Ruben, so klug wie er war, hatte einfach nicht verstanden, dass meine Eltern und ich gar nicht richtig jüdisch, sondern evangelisch waren. Aber konnte man es ihm verdenken? Schließlich wollte es in ganz Deutschland niemand verstehen.
    Erst als ich an Ruben dachte, fiel mir plötzlich ein, dass Bekka und ich seit dem November gar nicht mehr zur Schule gegangen waren. Wie hatte ich das vergessen können? Als hätten die vergangenen sechs Wochen, die Verhaftung und Rückkehr von Papa, der Verlust unserer Wohnung und die Zeit bei Tante Ruth gar nicht stattgefunden. Als spielte das alles keine Rolle mehr, als wären wir schon weit weg.
    Dabei standen wir in Wirklichkeit noch immer am Bahnhof unter der Anzeigetafel, keineswegs in Sicherheit, und als hätten meine unvorsichtigen Gedanken sie herbeigerufen, bahnten sich die ersten Uniformträger ihren Weg. Wie üblich waren sie zu zweit, einer trug die kackbraune Kluft der SA , der andere SS -Schwarz einschließlich der Totenkopfmütze.
    Und wie üblich pickten sie zielsicher die Juden heraus. Erkannten sie uns an den versiegelten Koffern? Grundsätzlich hielt ich es nicht für unwahrscheinlich, dass die Nazis darin geschult wurden, Angst zu erschnüffeln. »Papiere!«, hörte ich einen bellen.
    Der Angesprochene, ein Mann mit kurzem grauen Bart und Hut, hatte alles schon griffbereit in der Seitentasche seines langen Mantels und reichte dem SA -Mann wortlos ein ganzes Bündel. Selbst aus mehreren Metern Entfernung erkannte ich, worum es sich handelte: drei Ausweise, drei Ausreisegenehmigungen, einen Haftentlassungsschein, drei Zugfahrkarten, drei Schiffspassagen, die Zollbescheinigung für einen vorausgeschickten »Lift«, die Bescheinigung über die Kontrolle des versiegelten Gepäcks, die Bescheinigung über die entrichtete Reichsfluchtsteuer.
    Der Mann hatte genau dasselbe dabei wie wir. Nur die Ausweise, die er vorzeigte, sahen anders aus, trugen das verräterische rote »J«, mit dem so viele, die auf einer Behörde hatten vorsprechen müssen, in den letzten Monaten nach Hause zurückgekehrt waren. Dass man uns nicht als Juden gekennzeichnet hatte, gehörte zu den wenigen Dingen, die selbst mein Vater als gutes Omen wertete – was umgekehrt nur bedeuten konnte, dass das »J« auf den Pässen der anderen Familie nichts Gutes verhieß.
    Die Lippen meiner Mutter bewegten sich, während sie der Kontrolle zusah; vielleicht betete sie, dass die beiden Nazis nicht auch zu uns kamen, vielleicht zählte sie mit, ob dem Mann auch wirklich kein Papier fehlte. Zu ihm gehörten eine blasse rothaarige Frau und ein Junge, der sich tief in
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