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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Seite in Deckung.
    Auf Mamus Gesicht malten sich hektische Flecken. »Es tut mir leid, dass Ziska Richards Nase gebrochen hat«, stammelte sie.
    »Was?«, erwiderte Herr Graditz ungläubig und reckte sich ein wenig, um über den Wanderer hinweg auf mein ängstliches Augenpaar zu blicken, das hinter der Dachkante hervorlugte. »Du warst das?«
    Das sah dem Feigling ähnlich …! Trotz meiner Angst verdross es mich, dass Richard sich offenbar eine Lüge ausgedacht hatte, um aus unserem letzten Zusammenstoß eine Heldengeschichte zu machen!
    »Es war …«, begann Papa und verstummte.
    »Notwehr«, vollendete Onkel Erik kühn.
    Genau in der Mitte von Herr Graditz’ Stirn stand auf einmal eine Furche, die an die Andreasspalte erinnerte.
    »Drei Jungen gegen ein Mädchen«, betonte Onkel Erik, obwohl Mamu und Papa ihm flehentliche Blicke zuwarfen. »Ziska war selbst aufs Übelste zugerichtet. Zeig ihm die Narbe an deiner Lippe, Kind!«
    Ich duckte mich noch tiefer hinters Auto. Von der Narbe war sowieso fast nichts mehr zu sehen.
    »Wenn Ihnen Behandlungskosten entstanden sind, kommen wir selbstverständlich dafür auf«, beeilte sich Papa zu versichern.
    »Der Bursche«, erwiderte Herr Graditz ärgerlich, »kann heute Abend was erleben …!«
    An dem Stein, der ihr vom Herzen fiel, quetschte Mamu ein Lachen vorbei. »So sind Kinder eben«, meinte sie. »Man kann sie ja nicht anketten.«
    »Aber ihr wart doch mal Freunde«, sagte Herr Graditz zu mir.
    Die Worte trafen wie kleine spitze Pfeile. Ja, Richard und ich waren einmal Freunde gewesen, gute Freunde sogar – bevor er herausfand, dass ich Jüdin war! Komisch, dass Herr Graditz fragte, schließlich waren es Richards Eltern gewesen, die ihn darauf aufmerksam gemacht hatten. Konnte er das wirklich schon vergessen haben?
    Herr Graditz blickte rasch nach rechts und links. »Wohin geht es denn?«, fragte er gedämpft und meine Mutter schien ernsthaft mit dem Gedanken zu spielen, einen anderen Ort zu nennen. Wahrscheinlich fiel ihr auf die Schnelle nur kein anderer ein.
    Als er unser Ziel erfuhr, erwiderte Richards Vater: »Aber da herrscht doch Krieg!«
    Einige Sekunden hing das Wort in der Luft wie ein Ballon, den niemand fangen wollte. Dann wippte Onkel Erik herausfordernd auf den Zehenspitzen.
    »Für uns herrscht auch hier Krieg, Herr Graditz!«, antwortete er und meine Eltern hielten die Luft an, doch Richards Vater senkte nur ganz leicht den Kopf, worin man, wenn man wollte, ein Nicken erkennen konnte; er trat einen Schritt zurück, zog den Hut vor meiner Mutter und ging rasch auf den Bahnhof zu.
    Wir blieben zurück inmitten unserer Koffer und standen noch einige Augenblicke stumm da, bis ein anderer Autofahrer auf unseren Parkplatz wies und zu hupen begann. Onkel Erik gestikulierte ungeduldig zurück; er war fest entschlossen, uns am Zug zu verabschieden, und die Begegnung mit Herrn Graditz hatte ihn offenbar noch bestärkt.
    »Du redest zu viel, Erik«, warnte Mamu auf dem Weg. »Bitte sei vorsichtig, denk an Ruth und die Kinder!«
    »Danke euch für den Wagen«, erwiderte Onkel Erik nur. »Betrachten wir ihn als Darlehen. Sobald ich kann, zahle ich das Geld zurück.«
    Es war vier Tage vor Weihnachten und auf dem Bahnhofsvorplatz hielten die Busse jetzt im Minutentakt. Unermüdlich spuckten sie neben den morgendlichen Berufspendlern auch zahlreiche Weihnachtsurlauber aus, die sich, bepackt mit Koffern und Geschenkschachteln, auf die Reise in andere Teile Deutschlands machten. Da Deutschland sich ständig vergrößerte – allein in diesem Jahr waren Österreich und die Tschechoslowakei hinzugekommen –, nahm ich an, dass die Leute früher und früher losfahren mussten, wollten sie ihr Ziel noch am selben Tag erreichen.
    Die Menschenmenge, die vom Vorplatz ins Innere des Bahnhofs drängte, spülte auch uns durchs Eingangsportal und bald befanden wir uns unter der riesigen Kuppel, die Wartehalle und Bahnsteige überspannte. Ein Kofferträger eilte sogleich auf uns zu, aber Papa winkte ab, wir hätten den Mann nicht bezahlen können. Schuhputzer, Zeitungs- und Süßwarenverkäufer machten ebenfalls kein Geschäft mit uns, nur die Schlagzeilen des Tages hörten wir wiederholt durch die Halle gellen, während wir unter den zahlreichen Wartenden nahe der Anzeigetafel in Deckung gingen. Mamu war der Meinung, dass wir auf diese Weise weniger auffielen, als wenn wir wie auf dem Präsentierteller am Bahnsteig standen.
    »Japan nennt Vorbedingungen für Frieden mit
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