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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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oft schweigend am Fenster.
    »Evchen und Betti sind zu klein für solche Strapazen«, erklärte Mamu, die, nachdem Tante Ruth nicht antwortete, wieder Oberwasser gewann. Evchen und Betti, meine kleinen Cousinen, schliefen im Zimmer nebenan und rangierten unter den größten Plagen der vergangenen vier Wochen auf einem der vorderen Plätze. »Lass uns erst einmal Fuß fassen, bevor ihr kommt. Schlimm genug, dass wir Ziska all dem aussetzen müssen, sie ist schließlich auch erst zehn.«
    »Fast elf!«, protestierte ich.
    »Erik ist extra gekommen, um den letzten Abend mit euch zu verbringen, und ihr wart nicht da!«, fing Tante Ruth wieder an.
    »Das ist schade, aber woher hätten wir das wissen sollen? Bitte, Ruth, lass uns nicht mehr streiten. Du sagst es doch selbst: Es ist unser letzter Abend – wenn nicht noch etwas dazwischenkommt. Siehst du jemand da unten, Franz?«
    Papa reagierte nicht. Am liebsten hätte ich ihn am Ärmel gezupft. Er war seit sechs Tagen wieder bei uns, aber er sah noch nicht aus wie Papa, er sprach noch nicht wie Papa; Mamu meinte, wir müssten Geduld haben, doch insgeheim hatte ich ein wenig Angst, dass er sich vielleicht gar nicht erinnerte, wie Papa war.
    »Ich dachte immer«, sagte Tante Ruth leise, »wir würden alle zusammen gehen. Nach Holland, Belgien, Schweden … aber diese Weltreise kostet ein Vermögen. Das schaffen wir nie.«
    »Wir müssen raus«, antwortete Mamu fest. »Anders wäre Franz nicht freigekommen. Wohin wir fahren, und ob und wie was zu schaffen ist, ist mir im Augenblick völlig gleichgültig. Darüber kann ich immer noch nachdenken, sobald wir unterwegs sind.«
    Bevor ihre Schwester etwas erwidern konnte, stand Mamu auf und stellte sich neben Papa ans Fenster. Tante Ruth lehnte sich zurück. Was gab es auch noch zu sagen? Auch Mamu wäre, wie wir alle wussten, lieber nach Holland, Belgien oder Schweden gegangen – schon vor drei, vier Jahren, aber Papa hatte nicht gewollt und jetzt war es zu spät. Jetzt gab es nur noch einen einzigen Ort, der Juden ohne Visum offenstand; einen Ort, von dessen Existenz ich bis vor wenigen Monaten nicht einmal gewusst hatte.
    Je weiter weg, umso besser, sagte Mamu jetzt. Mit dem rechten Bein kratzte sie, während sie am Fenster stand, unentwegt an der Wade des linken und ihre Nervosität war so ansteckend, dass ich es auf dem Sofa nicht länger aushielt und mich zu meinen Eltern stellte.
    Acht Stunden und zehn Minuten. Unten auf der Straße war alles still. Unvorstellbar, dass sie wiederkamen, dass der Wolf und ich uns am Ende doch noch gegenüberstanden! Würde es sein wie in meinem Traum? Schon spürte ich meine Knie schwer werden, den Atem in der Brust stecken bleiben, und war da nicht schon ein kalter Luftzug von der Tür …? Ich wusste, dass die Tür gut verschlossen und niemand außer uns in der Wohnung war, aber es fehlte nicht viel und ich hätte mich dennoch umgedreht.
    »Shanghai«, murmelte Papa und starrte auf die Straße, als versuchte er in den Lichtflecken zu lesen, die die Gaslaternen aufs dunkle Pflaster malten.
    »Das heißt Stadt über dem Meer «, munterte Mamu ihn auf und nahm seinen Arm. Ich wünschte, zwischen ihnen wäre noch Platz für mich gewesen.
    Mein Vater schüttelte leicht den Kopf. »Das heißt das Ende der Welt«, antwortete er.

2
    Für jemanden, der als untergetaucht galt, sahen wir meinen Onkel Erik erstaunlich oft. Er kam zum Wäschewaschen und manchmal zum Abendessen, und er war da, wenn man ihn brauchte. Er hatte selbst vorgeschlagen, uns in unserem Wanderer zum Bahnhof zu fahren, damit die versiegelten Koffer in der S-Bahn nicht unnötig Blicke auf uns zogen. Bei dem Wanderer handelte es sich um unseren eigenen Wagen, den Onkel Erik nach unserer Abreise über Dritte verkaufen wollte. Anschließend wollte er einen Weg suchen, uns das Geld irgendwie zukommen zu lassen.
    Bis vor Kurzem hatte ich mir vorgestellt, unterzutauchen bedeutete aus der Öffentlichkeit zu verschwinden, doch bei Onkel Erik war das Gegenteil der Fall. Untertauchen konnte man, wie er bewies, nicht nur in einem Keller oder einer Laubenkolonie, untertauchen konnte man auch in einer Menschenmenge. Da das Wort Jude niemandem von uns angeschrieben stand, kam es einzig darauf an, nicht aufzufallen, und so fuhr mein rundlicher, glatzköpfiger Onkel seit dem November mithilfe einer Monatskarte kreuz und quer durch die Stadt. Die Nächte verbrachte er bei unterschiedlichen Freunden, und obwohl er derer viele besaß und der
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