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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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wird auch von Japan anerkannt. Das Sagen haben Briten und Amerikaner. Es gibt auch noch einen französischen Sektor mit denselben Rechten.«
    »Und wovon in aller Welt wollen Sie dort leben?«
    »Wovon sollen wir hier leben?«, erwiderte Papa. »Ich darf nicht mehr arbeiten – wie Sie, mein Lieber, schon seit Jahren. Anderswo werden Rechtsanwälte vielleicht noch gebraucht.«
    »Im Übrigen bin ich auch noch da«, erinnerte Mamu. »Ich habe vor der Ehe Steno und Schreibmaschine gelernt, und vergessen Sie nicht … unser Lift!«
    Sie beugte sich vor. »Während wir reden«, vertraute sie Frau Liebich an, »ist ein Container mit Möbeln, Teppichen, Geschirr und Bettzeug bereits unterwegs nach Genua. Alles, was wir nach dem Pogrom aus der Wohnung retten konnten, geht mit uns aufs Schiff! Da drüben müssen die Sachen ein Vermögen wert sein.«
    Frau Liebich spitzte den Mund zu einem staunenden »Oooh!«.
    »Mein Meißen ist nicht mehr dabei«, setzte Mamu hinzu. »Was die Zerstörung heil überstanden hat, haben sie konfisziert, diese Verbrecher. Den Schmuck für einen Spottpreis geraubt, die Konten gesperrt … zehn Reichsmark darf jeder von uns mitnehmen, zehn Reichsmark! Aber denen werden wir es zeigen, das schwöre ich Ihnen. Meine Familie wird nicht betteln gehen!«
    Als sie merkte, dass sie eine Hand zur Faust ballte, legte sie sie verlegen in den Schoß und strich mit der anderen darüber.
    »Wenn jemand es schafft, dann Sie«, tröstete Frau Liebich.
    Bang erwiderte Mamu: »Wenn wir nur schon über die Grenze wären!«, und sandte zum ungefähr zwanzigsten Mal einen Blick zur Standuhr. Die Zeiger standen auf halb zehn, meine und Bekkas übliche Bettzeit war längst verstrichen, aber ich wusste, dass dies nicht der Grund war, warum Mamu den ganzen Abend die Uhr im Auge behalten hatte.
    »Und Sie?«, fragte Papa.
    Bekkas Mutter zuckte kaum merklich zusammen. Mamu ebenfalls, denn wenn eine Familie nicht genug Geld besaß, um sich in Sicherheit zu bringen, hütete man sich, das Thema anzusprechen – es sei denn, man war in der Lage zu helfen. Mamu hatte mir allerdings klargemacht, dass selbst wenn die Reichsfluchtsteuer unsere eigenen Ersparnisse nicht restlos verzehrt hätte, zuallererst meine Tante und ihre Familie an der Reihe gewesen wären.
    Es war Herr Liebich, der antwortete: »Die Kinder gehen nach England. Das ist die Hauptsache.«
    »Außer dass wir euch nachholen, meinst du«, erwiderte Bekka sofort. »Ich habe an Silke Weinstein geschrieben. Sie hat ihren Eltern von England aus eine Arbeitserlaubnis besorgt und kann mir genau sagen, wie man es macht.«
    »Wenn jemand es schafft, dann du«, gab Mamu lächelnd zurück, worauf Bekka, die meine Mutter verehrte, vor Freude errötete und Herr Liebich den Rücken straffte.
    »Was immer passiert«, sagte er, »lasst uns nicht den Mut verlieren. Lasst uns vorangehen, dann wird sich auch ein Weg auftun. Bessere Zeiten werden anbrechen – das war doch immer so«, fügte er wesentlich leiser hinzu.
    »Amen«, hörte ich Mamu murmeln.
    Es klang wie das Stichwort zum Aufbruch und wurde offenbar auch so verstanden, denn Herr Liebich rieb sich über die Knie, Frau Liebich begann mit einer Hand die Krümel vom Tisch zu fegen, aber da meine Eltern von vornherein vereinbart hatten, auf keinen Fall vor zehn zu gehen, entstand eine kleine verlegene Pause.
    »Thomas, spielst du uns etwas?«, bat Frau Liebich schließlich und lehnte sich wieder zurück.
    Und so musste niemand über Dinge reden, an die man nicht einmal denken wollte, so verklang der letzte Abend unseres alten Lebens zu Etüden von Chopin und die Lampe auf dem Klavier warf Schatten, als wiegte sich der Raum zu Thomas’ Musik. Er hätte fröhlichere Melodien aussuchen können, dachte ich, während die Erwachsenen verstohlen Tränen aus den Augenwinkeln tupften, aber ich verstand nur zu gut, dass Bekkas Bruder noch längst nicht beim Aufbruch, sondern erst bei den nicht gesprochenen Worten war.
    Bekka saß neben ihm auf dem Hocker, um die Noten umzublättern. Auch sie hatte einmal Klavierstunden genommen, hatte aber, da sie spürte, dass sie an Thomas’ Talent nicht heranreichte, die Lust verloren. Wir beide waren zum Glück nie Konkurrentinnen gewesen; es gab – außer im Laufen – nichts, worin ich herausragte.
    Und das war mein letztes Bild von ihnen: ihre Köpfe dicht nebeneinander, aufmerksam, lauschend, und Bekkas Zopf, der Thomas’ Schulter streifte, wenn sie sich nach den Noten beugte. Ich hatte
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