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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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plötzlich das Bedürfnis, mir jedes einzelne Detail genau einzuprägen, aber je näher ich hinsah – der vertraute Anblick einzelner Strähnen, die sich im Laufe des Abends aus Bekkas Zöpfen gelöst hatten, der Stolz auf Frau Liebichs Wangen, Herrn Liebichs beschlagene Brille –, desto unbegreiflicher wurde mir noch einmal der Aufbruch, an den ich mich gerade erst gewöhnt zu haben glaubte. In diesem Haus war ich immer willkommen gewesen, auf diesen Esstisch war so oft ungefragt ein Teller für mich gestellt worden. In dieser Wohnung hatte ich von Armut gar nichts bemerken können, weil es nie anders als warm, liebevoll und heiter gewesen war.
    Außer danach , natürlich. Seit dem Pogrom im November war es nirgends in der Stadt mehr warm und heiter; es saß in den Regenrinnen, zwischen den Pflastersteinen, es war wie der Vorbote einer neuen Jahreszeit, die nicht im Kalender stand. Noch unbegreiflicher als zu gehen war nur eins: Liebichs zurückzulassen, und mit einem Mal begann mir vor dem Abschied zu grauen, um die Stirn wurde es kalt, jedes einzelne Härchen auf meinen Armen richtete sich abwehrend auf.
    Endlich hatte Thomas ein Einsehen und ging zu einer helleren, aufmunternden Melodie über, die noch lange in meinem Kopf blieb.
    Herr Liebich sprach einen Reisesegen, als wir schon in der Tür standen, was meine Eltern ein wenig in Verlegenheit brachte. Den ganzen Abend hatten Liebichs wie immer taktvoll darüber hinweggesehen, dass wir zu den Getauften gehörten: Juden, die eigentlich keine mehr waren. Jetzt sagte Frau Liebich leise: »Wer weiß, ob es Ihnen einmal nützt, sich zu erinnern.«
    Meine Blutsschwester tat mir den Gefallen und machte es kurz: »Wenn du mal nicht seekrank in der Koje liegst, schick mir von unterwegs Karten! Auf eurer Route liegen mehrere große Häfen, ich hab im Atlas nachgesehen.«
    Ein letztes Mal die Silbersteinstraße entlang. Ein letztes Mal die Nachtlichter der S-Bahn, Köpfe, Hüte, Zeitungen, dann das Rücklicht, das sich entfernte. Weiter vorn, im Dunkeln kurz vor dem Bahnhof Hermannstraße, sprang das Signal auf Grün.
    Der tiefe Graben der S-Bahn-Schienen durchschnitt unser Viertel, durchschnitt Davor und Seitdem, denn wollte man hinüber in den Teil der Hermannstraße, in dem meine Eltern und ich bis zum November gewohnt hatten, musste man die Brücke überqueren. Es war ein Leichtes, sich einzubilden, es sei mehr als eine Brücke, es sei die Grenze eines fremden Landes, und ich war nicht mehr auf der anderen Seite gewesen, seit sie uns hinausgeworfen hatten. Ich wusste nicht einmal, ob neue Mieter in unsere Wohnung gezogen waren, ein anderes Kind aus dem Hinterhoffenster im dritten Stock in die Birke schaute. Meine Birke, die mir das Leben gerettet hatte! Davon war ich felsenfest überzeugt, obwohl Mamu meine schlechten Träume auszutreiben versuchte, indem sie behauptete, der Wolf hätte mir nichts getan, er habe ihr und Papa nur Angst einjagen wollen und seine Augen seien auch nicht gelb gewesen – wie ich denn darauf käme. Sie müsse es doch wissen, sie habe ihn schließlich aus der Nähe gesehen, während er sie schlug, sie erinnere sich noch genau an sein Gesicht.
    Wir gingen sehr schnell, um niemandem Gelegenheit zu geben, Papa zu erkennen. Man hörte von Leuten, die noch am Abend vor der Auswanderung abgeholt worden waren; die Gestapo war, wie Mamu nicht müde wurde zu betonen, genau im Bilde über sämtliche Reisepläne. Ich stellte mir vor, wie sie in ihren Büros saßen, über Stadtpläne gebeugt, die nicht nur mit Straßen und Hausnummern, sondern mit den Abreisedaten von Juden in der ganzen Stadt bedeckt waren.
    Die Angst, dass sie uns im letzten Augenblick dazwischenfuhren, war der Grund, weshalb meine Eltern die Einladung angenommen hatten: Bei Liebichs würde uns niemand vermuten. Vorsichtshalber gingen wir am Haus von Tante Ruth erst einmal vorbei und noch ein ganzes Stück die Straße hinunter, um sicher zu sein, dass uns niemand folgte oder in einem Hauseingang, einem Auto oder hinter dem S-Bahn-Zaun auf uns wartete.
    »Wir könnten noch ein wenig durch die Seitenstraßen …«, meinte Papa unschlüssig.
    Mamu biss sich auf die Lippen und behielt die Eckkneipe im Auge, durch deren offene Tür Gebrüll und Gelächter drangen; der Geräuschpegel schwoll an, je näher wir kamen, und legte sich wie ein Bleigewicht um unsere Füße. Was, wenn jemand heraustrat und einen Blick auf Papa warf? Sein Hut war nicht groß genug, um zu verbergen, dass sein Kopf
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