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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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geschoren war; niemand in Berlin konnte so betrunken sein, dass er nicht ahnte, was das bedeutete!
    Kurz bevor wir die Kneipe erreichten, verlor meine Mutter den Mut und flüsterte, um diese Zeit käme die Gestapo sowieso nicht, höchstens in den frühen Morgenstunden könne es noch einmal gefährlich werden und es spräche nicht das Geringste dagegen, sofort nach oben zu gehen und vor der langen Reise noch ein paar Stunden zu schlafen.
    Vorsichtshalber ließ sie mich trotzdem vorangehen und nachsehen, ob der Weg durchs Treppenhaus frei war. So leise wie möglich huschte ich am Geländer entlang und gab mir alle Mühe, Bekkas tapferen Blutstropfen ins Bewusstsein zu rufen, der in meinem Körper zweifellos bereits sein Möglichstes versuchte. Das vereinbarte Signal war, das Licht im Badezimmer einzuschalten, dessen Fenster zur Straße hinausging.
    Das Mietshaus, in dem Tante Ruth wohnte, sah fast genauso aus wie das, in dem ich bislang zuhause gewesen war, denn viele Straßenzüge unseres Bezirks waren zur selben Zeit um die Jahrhundertwende errichtet worden. Im Gegensatz zu unserem eigenen Haus wusste ich jedoch nicht, wer hinter all diesen Türen wohnte. Seit unserem überstürzten Einzug waren mehr als vier Wochen vergangen, doch erst wenige Male hatte ich jemanden zu Gesicht bekommen. Ich wusste nicht, wer uns feindlich gesinnt war wie früher die alte Bergmann, wem wir egal waren oder wer uns vielleicht sogar geholfen hätte. Gab es auch hier eine Christine? Wenn ja, dann würde ich sie nicht mehr kennenlernen. Neun Stunden noch! Nein, achteinhalb, es war fast geschafft.
    »Erik hat anderthalb Stunden auf euch gewartet«, tönte Tante Ruths ärgerliche Stimme aus dem Wohnzimmer, kaum dass ich meinen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte.
    Mamus Schwester hatte uns so widerwillig aufgenommen, dass ich erwartet hatte, sie froh und dankbar zu sehen, sobald sie uns wieder loswurde, doch das Gegenteil war der Fall: Seit Papa entlassen worden war und unsere Auswanderung unmittelbar bevorstand, erweiterte sich mein Sprachschatz um täglich neue Varianten des Begriffs im Stich lassen.
    »Ist euch klar, welches Risiko mein Mann eingeht, hierherzukommen? Aber nein, typisch, wie immer denkt ihr nur an euch! Tja, warum sollte es jetzt noch anders werden?«
    Ich tippte die halb offene Wohnzimmertür mit dem Zeigefinger an, und sie gab den Blick frei auf Tante Ruth, die aufrecht auf dem Sofa saß, eine Decke um die Beine gewickelt, zitternd vor Entrüstung.
    »Aber es ist doch schon alles ausgemacht«, protestierte ich. »Onkel Erik wartet um sieben an der Brücke mit dem Wagen auf uns.«
    »Wo sind deine Eltern?«, fragte Tante Ruth scharf.
    »Noch unten.« Ich ließ meine Tante auf dem Sofa zurück, öffnete die Badezimmertür und schaltete das Licht ein. Keine zwei Minuten später hörte ich Schritte im Hausflur, zählte langsam bis zehn, dann öffnete ich ein weiteres Mal Schlösser, Kette und Riegel.
    »Euer letzter Abend!«, rief Tante Ruth bitter. »Nicht genug, dass ihr uns zurücklasst – ihr müsst euren letzten Abend auch noch mit Fremden verbringen!«
    »Nun hör mir mal zu, Ruth«, erwiderte Mamu außer Atem. »Wenn wir erst drüben sind, tun wir, was wir können, um euch nachzuholen, aber einer muss doch den Anfang machen. Oder sollen wir uns alle ducken wie die Kaninchen und hoffen, dass uns keiner packt?«
    »Zwei kleine Kinder, der Mann untergetaucht!«, klagte Tante Ruth. »Wie soll ich das schaffen, Margot? Wie stellst du dir das vor?«
    »Ach, ich weiß es doch auch nicht!«, sagte Mamu leise und setzte sich neben meine Tante. »Ich weiß nur, dass es unsere letzte Chance ist. Glaubst du, wir gehen gern ?«
    »Überall muss es besser sein als hier«, sagte Tante Ruth heftig.
    »Bist du da so sicher?«, erwiderte Mamu. »Als wir unsere Namen auf die Warteliste setzten, dachten wir, dass wir unser Erspartes mitnehmen könnten – und nun? Franz hat keinen Beruf, mit dem man da drüben etwas anfangen kann. Wir werden bettelarm und ausgeplündert ankommen, wir werden von Almosen leben und Krankheiten bekommen, von denen wir hier nicht einmal gehört haben!«
    Mein Mund stand offen. Liebichs gegenüber, vor weniger als einer Stunde, hatte Mamu noch genau das Gegenteil behauptet! Hilfesuchend sah ich zu meinem Vater, aber der war zum Fenster getreten und schaute auf die Straße hinunter – seine Art uns mitzuteilen, dass er sich heraushielt. Seit er aus Sachsenhausen entlassen worden war, stand Papa ziemlich
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