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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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er uns näher kommen sah, öffnete den Kofferraum und hob unser Gepäck ohne ein Wort hinein; erst als wir im Wagen saßen und losfuhren, begannen alle gleichzeitig zu reden.
    »Geschafft – oder? Ich glaub’s erst, wenn wir im Zug sitzen.«
    »Auf dem Schiff meinst du! Oder noch besser in internationalen Gewässern.«
    »Wenn sie nur nicht schon am Bahnhof auf uns warten!«
    »Warum sollten sie? Sie sind doch froh über jeden von uns, der verschwindet.«
    Mamu beugte sich über die Rückenlehne des Beifahrersitzes, auf dem Papa neben Onkel Erik saß, und spähte so angespannt nach vorn, als erwartete sie Straßensperren, Razzien oder dass der Teil der Straße, auf dem wir Richtung Bahnhof fahren wollten, über Nacht einfach verschwunden war. Ein feiner Dezembernebel hing in der Luft, die Pflastersteine glitzerten, und unbemerkt von den Erwachsenen kurbelte ich das Fenster einen Spalt herunter, um meine Fingerspitzen in die Kälte zu halten. Auf Wiedersehen, Bekka. Auf Wiedersehen, unser Haus. Auf Wiedersehen, meine alte Schule.
    Vorne im Wagen nahm Papa umständlich ein Blatt Papier aus der Manteltasche und las dem erstaunten Onkel Erik vor, dass er nunmehr im Besitz eines Automobils »Wanderer W15« sei. Mein Vater musste das Schreiben noch am Morgen aufgesetzt haben, er hatte sogar den Stempel seiner früheren Anwaltskanzlei daraufgedrückt, den er eigentlich gar nicht mehr benutzen durfte.
    »Damit kannst du den Wanderer einem deiner arischen Freunde übertragen«, meinte Papa. »Der wird einen sehr ordentlichen Preis dafür bekommen, mit dem du versuchen kannst, euch herauszubringen.«
    »Wir hatten doch besprochen …«, begann Onkel Erik, aber Mamu unterbrach ihn: »Wir haben es uns eben anders überlegt. Das Geld ist eures, ihr braucht es dringender als wir.«
    Onkel Erik antwortete nicht. Papa legte das Dokument und den Ersatzschlüssel ins Handschuhfach und klappte es mit Nachdruck zu. Wir fuhren zügig, aber keinen Stundenkilometer zu schnell am Flughafenzaun entlang; durch die Nebelreste war die schnurgerade Linie der Scheinwerfer zu erkennen, die die Start- und Landebahn markierte. Auf Wiedersehen, Friedhof. Auf Wiedersehen, Sportplatz. Auf Wiedersehen, Flugplatz und Flugzeuge.
    Mir war klar, dass dieser Wunsch keinerlei Sinn ergab, da ich mein Zuhause, wenn alles gut ging, nicht wiedersehen würde. Aber ein anderes Wort des Abschieds wollte mir nicht einfallen, und gar nichts zu sagen wäre mir auch nicht richtig erschienen. Konnten Friedhof, Sportplatz oder die Baumwipfel der Hasenheide, die am Ende des Zauns vor uns auftauchten, denn etwas dafür, dass wir gehen mussten? Na also.
    Erst als wir den Park hinter uns gelassen hatten, schob ich meine steif gefrorene Hand behutsam in die warme Manteltasche und kurbelte mit der anderen das Fenster hoch. Vorbei. Dieser Teil der Stadt war schon nicht mehr Zuhause.
    »Noch ein paar Minuten und ihr habt’s geschafft«, meinte Onkel Erik.
    Hinterher stimmten meine Eltern überein, dass sie eine Art sechsten Sinn gehabt haben mussten, obwohl eigentlich kein ernsthafter Grund zu der Befürchtung bestand, jemand könne unsere Ausreise im letzten Moment noch verhindern wollen. War nicht Papa, nachdem Mamu die Schiffspapiere hatte vorweisen können, innerhalb vierundzwanzig Stunden anstandslos freigelassen worden? Gut, er hatte sich danach jeden Tag bei der Gestapo melden müssen, aber bedroht hatte man ihn nur damit, dass er ein toter Mann sei, wenn er den Ausreisetermin verstreichen ließ.
    Bei allen bösen Geistern in diesem Land: Es konnte nichts mehr dazwischenkommen! Doch die Sorge war meinen Eltern mit den Jahren unter die Haut gekrochen und Mamu bei unserer Ankunft am Anhalter Bahnhof so nervös, dass sie im Aussteigen auf ihren Mantel trat und mit einem leisen Schrei aufs Pflaster fiel. Bevor Papa oder Onkel Erik reagieren konnten, war bereits ein Herr herbeigeeilt und half ihr auf.
    »Frau Mangold?«, fragte er überrascht und mein Herz stockte.
    Herr Graditz – ausgerechnet! Und es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis der Vater meines größten Feindes die Situation erfasst hatte.
    »Ach«, sagte er gedämpft. »Sie auch?«
    Nicht die Gestapo, sondern die Vergangenheit war es also, die uns im letzten Augenblick einholte. Meine Vergangenheit, um genau zu sein. Allein zu sehen, wie erschrocken Mamu zurückwich, verlieh meinem bewährten Fluchtreflex den nötigen Schub. Ohne zu überlegen schoss ich um den Wanderer herum und ging auf der anderen
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