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Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer

Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer

Titel: Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Autoren: Alex Capus
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Vorwort
    Ich will nicht behaupten, dass Christoph Kolumbus Schweizer gewesen sei – aber ziemlich sicher bin ich schon. Denn zur gleichen Zeit, da dessen Stammvater aus dem Nichts in Genua auftauchte, hatten am Genfer See die Ritter von Colombey ihre Besitztümer verkauft und waren mit unbekanntem Ziel verschwunden, verdrängt vom ungleich mächtigeren Herzog von Savoyen – und wenig später ließ sich vor den Toren Genuas ein gewisser Giacomo Colombo nieder. Daraus zu schließen, dass es ausgerechnet ein Schweizer gewesen sei, der Amerika entdeckte, ist ein wenig kühn und auf den ersten Blick nicht sonderlich bedeutsam. Hauptsache, Kolumbus hat Amerika entdeckt und uns Zugang zur Tomate, zur Glühbirne und zum Geist der Unabhängigkeitserklärung verschafft. Aber wenn jemand es unternähme, die DNA des Entdeckers, dessen Nachfahren im Dunstkreis der reichen Herzogin von Alba in Madrid leben, mit dem Erbgut der Einwohner Colombeys am Genfer See zu vergleichen, würde ich den Resultaten mit größtem Interesse entgegensehen.
    Die Ritter von Colombey lebten vom transalpinen Handel: Seide und Gewürze aus Genua wurden in die Städte des Nordens gebracht, in entgegengesetzter Richtung transportierte man Wolle, Käse, Leder und Eisenwaren. Das Städtchen Olten, in dem ich lebe, liegt an jenem Handelsweg, und die Terrasse des Restaurants«Stadtbad»bietet einen schönen Ausblick auf die Aare, über die viele Jahrhunderte lang die Kähne der Kaufleute hinunter zum Rhein und weiter nach Köln und Amsterdam fuhren. Mag also sein, dass Kolumbus’ Ahnen hier in Olten Station gemacht haben und sich im städtischen Bad – also im«Stadtbad», der ältesten Gaststube der Stadt – den Reisestaub vom Leib wuschen.
    Wenn diese Terrasse ein Gefährt für Zeitreisen wäre, könnte ich hier allerhand schöne Beobachtungen machen. Ich könnte Bertolt Brecht über den Aareweg gehen sehen, der im Hotel Bornhof eine Nacht verbrachte und über Olten schrieb:«Ein trostloser Ort.»Im Herbst 1916 würde ich Lenin sehen, der im Hotel Aarhof die zwei russischen Zahnarztgehilfen des Doktor Siegrist traf, die laut Einwohnerregister gleich neben meinem Haus an der Elsastraße 11 wohnten, vielleicht auch Rosa Luxemburg, die vor der Lastwagenfabrik Berna die Arbeiter aufgestachelt haben soll, und am 20. Juni 1878 Friedrich Nietzsche, der auf der Oltner Froburg das Alpenpanorama betrachtete und sich hernach ins Gästebuch eintrug. Ich sähe die Auswandererkähne auf ihrem Weg nach Le Havre und Amsterdam, dann ein Berner Dienstmädchen namens Marie Grosholtz unterwegs nach London, das als Madame Tussaud weltberühmt werden sollte, oder den zehnjährigen Mozart, der hier im Frühjahr 1766 ein kleines Stück flussaufwärts vorbeikam, und das amerikanische Kampfflugzeug, das im Wald zerschellte, und das Luftschiff Eduard Spelterinis, das hinter dem Engelberg verschwand. Ich sähe napoleonische Soldaten und römische Legionäre, Kreuzritter und Kelten, Langobarden und die weiß bemalten UN-Panzer, die nachts auf Tiefladern der Deutschen Bahn nach Jugoslawien transportiert wurden.
    Ich sitze gern hier und schaue hinunter auf den Fluss, und ich liebe mein Städtchen sehr. Aber ich bilde mir nicht ein, dass es sich in irgendeiner Weise auszeichne vor den anderen fünftausend großen und kleinen Städten Europas. Fast jede Stadt liegt an einem Fluss, über den einst Wikinger, Träumer und Himmelsstürmer zogen, und überall hat es uneheliche Kinder gefallener Dienstmädchen gegeben, die an bösen Stiefmüttern, fixen Ideen und körperlichen Gebrechen litten, und zahllos sind die bettelarmen Burschen und Mädchen, die während Hungersnöten, Kriegen und Seuchen ausgezogen sind, die Welt zu erobern. Vielleicht war Kolumbus ja gar nicht Schweizer, sondern Korse, Ostfriese oder Bosnier, das will ich gar nicht ausschließen – jedenfalls nicht, bis die DNA-Analysen vom Genfer See vorliegen.
    Wenn ich das Treiben auf meinem Fluss betrachte, kommt es mir vor, als ob hier jeder, den es je gegeben hat, irgendwann vorbeigekommen sei und jeder mit jedem bekannt war oder zumindest jeder einen kannte, der einen kannte, der mit dem anderen zu tun hatte; kommt hinzu, dass wir alle die Enkel unserer Ahnen und die Großeltern unserer Nachfahren sind. Jedenfalls glaube ich fest daran, dass alle Menschen Brüder sind – das ergibt sich allein schon aus der gentechnisch belegten Tatsache, dass sechzehn Millionen heute lebende Männer direkte Nachfahren Dschingis Khans
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