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Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer

Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer

Titel: Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Autoren: Alex Capus
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sind, oder dem unleugbaren Umstand, dass meine Tante Nayid – also die Ehefrau des zweitältesten Bruders meines Vaters – eine Urgroßnichte des vorvorlezten Schahs von Persien war; oder aus dem historisch nachweisbaren Faktum, dass ich selbst einmal im Vortrieb des neuen Lötschberg-Eisenbahntunnels mit Prinz Charles ein Schwätzchen gehalten habe. (Er sagte:«It is rather noisy, isn’t it?»Und ich antwortete:«It is indeed, Your Royal Highness.») Wir sind alle Brüder und Schwestern, und alles hängt mit allem zusammen, und deshalb ist alles von Bedeutung – die kleinste unserer Taten, die geringste unserer Unterlassungen. Daran glaube ich, und das ist mir ein steter Trost und ein großes Vergnügen.
    Olten, auf der Sonnenterrasse des«Stadtbad»,
im Februar 2008

1 Madame Tussaud
    Um 1765 konnte man, falls uns niemand angelogen hat, in den Gassen der alten und mächtigen Stadt Bern ein vierjähriges Mädchen namens Marie sehen, das Wäsche zur Aare trug, Brot beim Bäcker besorgte und Brennholz die Treppe hochschleppte. Sie unterschied sich in nichts von den anderen Kindern, die zu Hunderten durch die Kramgasse, die Gerechtigkeitsgasse und die Judengasse wuselten und von denen die meisten bald an Cholera, Tuberkulose, Diphtherie oder schlechter Ernährung sterben würden. Marie aber überstand ihre Kindheit dank Glück, robuster Gesundheit und zärtlicher Fürsorge und lebte ein märchenhaft langes Leben. Sie zog in die Welt hinaus und ging in den prächtigsten Schlössern der Welt ein und aus, schmachtete im finstersten Verlies und entkam, nachdem ihr der Henker schon den Kopf geschoren hatte, nur knapp der Guillotine. Und als sie schließlich hochbetagt starb, war sie weltberühmt als die geschäftstüchtigste Künstlerin aller Zeiten.
    Dabei hatte alles ganz schlecht angefangen. Ihre Mutter hieß Anna Walder, war Dienstmädchen in Straßburg und erst siebzehn Jahre alt, als sie ungewollt schwanger wurde, angeblich von einem achtundzwanzig Jahre älteren Frankfurter Söldner namens Joseph Grosholtz, der aber kurz vor der Geburt des Kindes seinen Kriegsverletzungen erlegen sein soll. Jedenfalls war die Mutter allein, als die Wehen einsetzten. Und als die kleine Marie am 7. Dezember 1761 in der Kirche zu Sankt Peter getauft wurde, waren laut Taufregister weder die Mutter noch der Vater anwesend, sondern nur ihre Hebamme und der Kirchendiener, der gleichzeitig als Taufpate fungierte. Derart in Armut alleingelassen, mussten das Kind und seine Mutter, die selbst noch ein Kind war, unausweichlich in der Gosse landen, aus dem Haus gejagt von ihrem Brotherrn und verstoßen von den Familienangehörigen, die sie irgendwo haben mochte, worauf beide ziemlich bald gestorben wären, ohne der Nachwelt die geringste Spur zu hinterlassen.
    Diesmal aber nahmen die Dinge nicht den üblichen Gang, denn es trat ein rettender Engel auf. Philipp Curtius war vierundzwanzig Jahre alt und adlig, stammte aus Stockach am Bodensee und praktizierte als Arzt. Irgendwo, irgendwann muss er Anna Walder begegnet sein, vielleicht kurz nach Maries Geburt, möglicherweise aber auch mehr als neun Monate zuvor. In späteren Jahren behaupteten manche, eigentlich sei Curtius Maries leiblicher Vater gewesen und nicht Grosholtz – denn Letzterer sei im März 1761, also in den Tagen, da Marie aller Wahrscheinlichkeit nach gezeugt wurde, gar nicht in Straßburg gewesen, sondern mit General Würmser auf den Schlachtfeldern des Siebenjährigen Krieges. Nun ist zwar auf den Soldlisten des Generals kein Soldat namens Grosholtz zu finden, und auch Curtius’ Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der Empfängnis ist unbekannt, aber es spricht doch einiges dafür, dass damals der junge Doktor und nicht der alte Soldat an Annas Seite war. Siebzig Jahre später jedenfalls schrieb Marie in ihren Memoiren, dass Curtius zur Stelle gewesen sei, als ihre Mutter in Not war, und sie beide nach Bern führte und in einem Haus unterbrachte, in dem er seine Arztpraxis eröffnete.
    Das kann tatsächlich so gewesen sein.
    Sonderbar ist nur, dass in den Annalen der Stadt Bern die Namen Curtius und Grosholtz nie registriert wurden, weder im Hintersässenregister noch in der Volkszählung von 1764. Entweder also hat sich die junge Familie heimlich und ohne Wissen der Obrigkeit in Bern niedergelassen – was schwierig, aber nicht unmöglich gewesen wäre -, oder Marie hat im hohen Alter ihre Berner Kindheit einfach erfunden, um ihrer Vita eine schweizerisch-neutrale Herkunft zu
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