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Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer

Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer

Titel: Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Autoren: Alex Capus
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der Luft.
    Am Sonntag, dem 12. Juli 1789, konnte Marie Grosholtz die Revolution hören, wie sie trampelnd, krakeelend und singend die Rue du Temple heraufkam, laut und immer lauter wurde und schließlich vor dem Salon de Cire haltmachte. Drei- oder fünftausend Menschen standen vor der Tür, und sie verlangten die Wachsbüste von Finanzminister Jacques Necker. Curtius öffnete die Tür und war schlau genug, ihnen die Büste ihres Helden auszuliefern, und obendrein gab er ihnen das Abbild des Duc d’Orléans mit, der im Volk ebenfalls beliebt war. Die Demonstranten schmückten die Wachsköpfe mit schwarzem Krepp und zogen weiter, den Tuilerien entgegen, wo es zu einer Straßenschlacht mit königlichen Soldaten kam. Zwei Tage später stürmten die Aufständischen die Bastille und eroberten die Schwarzpulvervorräte der Schweizer Garde – und damit hatten sie Paris erobert. Curtius notierte stolz:«Ich kann also sagen, dass sich der erste Akt der Revolution chez moi ereignet hat.»
    Da der Wind nun gedreht hatte, musste auch der Salon de Cire sich neu orientieren. Marie ging jetzt wohl nicht mehr so oft hinaus nach Versailles, sondern suchte ihre Modelle unter den prominenten Republikanern der Hauptstadt. Und in der Ausstellung wurden sämtliche Exponate, die an das Königshaus erinnerten, eilig durch revolutionäre Souvenirs ersetzt. Mirabeau nahm den Platz von Louis XVI. ein, ein Modell der Bastille ersetzte jenes von Schloss Versailles, und hinzu kam das blutverschmierte Hemd eines getöteten Schweizer Gardisten.

    Curtius seinerseits schloss sich sofort der Nationalgarde an und war schon beim Sturm auf die Bastille dabei, wenn auch nicht ganz an vorderster Front. Da er als«Vainqueur de la Bastille», wie er seine Briefe nun stolz unterzeichnete, vertrauten Umgang mit den Republikanern pflegte, kam das komplette Triumvirat der Revolution – Robespierre, Marat, Danton – regelmäßig in die Rue du Temple zu Besuch, und zwar nicht nur tagsüber als Ausstellungsbesucher, sondern auch abends zum Essen im privaten Kreis. Will man Maries Memoiren Glauben schenken, so hat sie mit Robespierre geflirtet und mit Danton gestritten. Und was Jean-Paul Marat betraf, der sozusagen ein Landsmann von ihr und unweit von Bern, in Boudry am Neuenburger See, geboren und aufgewachsen war, so hat sie ihm mehrmals Unterschlupf gewährt, als er wegen seiner frechen Zeitungsartikel polizeilich gesucht wurde.

2 Jean-Paul Marat
    Ein paar Monate nach dem Sturm auf die Bastille tauchte also ein Landsmann bei Marie Grosholtz auf, mit dem sie sich anfangs gut verstand. Mit Jean-Paul Marat konnte sie Deutsch reden, und er war am Neuenburger See unweit von Bern zur Welt gekommen. Erst bewirtete sie ihn bei ihren abendlichen Gesellschaften, dann versteckte sie ihn im Keller vor der Polizei. Und als er tot war, modellierte sie ihn in Wachs für den Salon de Cire.
    Ihn nicht entsetzlich zu finden fällt schwer. Um den krumm gewachsenen Leib trug er Pistolen und ein Schwert, um den Schädel einen in Essig getränkten Turban. Seine Haut war gelb überkrustet von juckenden Ausschlägen, von denen er nur Linderung fand, wenn er seine Tage und Nächte im Bad verbrachte. Er war ein brillanter Redner und Zeitungsschreiber im Dienst der Revolution, und seine Liebe zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit war so groß, dass er das Volk in deren Namen zu Massakern aufrief.
    Jean-Paul Marat litt an einer schlimmen Hautkrankheit. Seine Ärzte sagten, er habe die Krätze oder Skrofeln, möglicherweise beides; die heutige Medizin würde wohl eine allergische Überreaktion des Immunsystems diagnostizieren, vielleicht Neurodermitis in Kombination mit Schuppenflechte, und zusätzlich eine Wachstumsstörung. Er wurde nie größer als fünf Fuß, und sein Hals war derart schief, dass man meinen konnte, der Kopf sei auf der rechten Schulter festgewachsen. Von frühester Kindheit an muss es ihn derart entsetzlich gejuckt haben, dass er sich nächtelang im Bett wälzte und die Haut aufkratzte, bis er blutete. Wenn dann endlich der Morgen graute, war er müde und gereizt, angriffslustig und hochfahrend.
    Zur Welt gekommen ist er am 24. Mai 1743 im Winzerstädtchen Boudry am Neuenburger See zwischen weißen Kalkfelsen und schwarzen Tannenwäldern. Sein Vater Juan Salvador Mara war ein ehemaliger Mercedariermönch aus Sardinien, der sich wegen Steuerzahlungen mit der Obrigkeit zerstritten hatte und vor dem langen Arm des Papstes ins calvinistische Genf geflohen war.
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