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Nachts wenn der Teufel kam

Nachts wenn der Teufel kam

Titel: Nachts wenn der Teufel kam
Autoren: Will Berthold
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haben das letzte Wort«, sagt der Vorsitzende zu Bauer.
    Der Angeklagte, der während des Plädoyers völlig zusammengesackt war, richtet sich mühselig auf. Noch einmal will er beteuern, daß er unschuldig ist, aber er bringt kein Wort über die Lippen.
    »Haben Sie uns nichts mehr zu sagen?« fragt der Landgerichtsdirektor.
    Fritz Bauer schweigt.
    Die Beratung der Geschworenen ist kurz. Vierzig Minuten dauert sie nur. Der Obmann verkündet den Spruch.
    »Schuldig des Mordes«, sagt er. Schuldig befunden mit großer Mehrheit.
    Das Strafmaß setzen die Richter fest. Auch sie brauchen nicht lange.
    »Im Namen des Volkes«, verkündet der Vorsitzende, »der Angeklagte Fritz Bauer ist wegen heimtückischen Mordes zum Tode verurteilt. Die bürgerlichen Ehrenrechte sind ihm lebenslänglich abzuerkennen.«
    In diesem Augenblick rutscht der Angeklagte ohnmächtig zusammen. Es geschieht so schnell, daß die beiden Polizisten nicht mehr eingreifen können. Sie ziehen ihn vom Boden hoch und legen ihn quer über die Bank.
    Man ruft nach dem Landgerichtsarzt.
    Kein Mensch weiß, wie oft Fritz Bauer vor seiner Hinrichtung in der Todeszelle stirbt. Revision abgelehnt. Gnadengesuch eingereicht. Antwort ausgeblieben. Zwischen Leben und Tod gibt der unschuldige ›Mörder‹ immer leisere, immer schwächere Unschuldsbeteuerungen von sich. Da erhält er völlig überraschend die Nachricht, daß er zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt ist.
    Ein Mörder bleibt er, aber leben darf er. Im Zuchthaus wenigstens. Jahr für Jahr wird er hier zubringen. Immer kleiner, immer unscheinbarer wird er werden. Immer mehr wird sein Lebenswille zusammenschrumpfen – bis er zehn Jahre später völlig überraschend und ohne Begründung freigelassen wird.
    Es ist kalt. Die Wetterwarte rechnet mit dem ersten Schnee. Vielleicht gibt es ein weißes Silvester.
    Man schreibt den 28. Dezember 1933. Es ist 23 Uhr 11 auf der Turmuhr.
    Kein Mensch ist mehr auf der Straße von Meißen in Sachsen. Viele Lokale haben geschlossen. Es ist finster. Man sieht die Hand nicht vor den Augen. Die Straßenbeleuchtung gehörte längst verbessert. Das Geld fehlt noch, aber es soll ja bald anders werden. So steht es wenigstens in den Zeitungen.
    Ein junges Mädchen hastet allein durch die Nacht: Lotte Merkel, knapp sechzehn Jahre alt, klein, blond, hübsch. Theaterelevin, nach Meinung ihrer Lehrer sehr begabt. Tanz- und Schauspielunterricht. Jeden Tag, jeden Abend, bis in die Nacht hinein, auch heute.
    Auch jetzt kommt sie gerade vom Unterricht. Ein paar Kollegen haben ihr ihre Begleitung angeboten, aber sie hätte noch eine halbe Stunde warten müssen, und das wollte sie nicht. Sie ist müde heute. Sie hat den ganzen Tag Rollen einstudiert, zitiert, Gymnastik- und Sprechübungen gemacht und getanzt. In einem halben Jahr soll sie zum erstenmal auf der Bühne stehen.
    Sie hätte doch noch warten sollen. An dieser Stelle, die sie gerade passiert, ist es besonders finster. Der Wind heult so schaurig, und Schatten geistern um Lotte Merkel herum. Unwillkürlich beschleunigt sie ihre Schritte. Sie wohnt im Stadtteil Sparr und muß deshalb jetzt über den Schwarzen Weg, um in die Karolastraße zu kommen, einem Feldweg mitten in der Stadt, auf dem links und rechts Häuser stehen. Er führt an einem Bahndamm entlang.
    Täuscht sie sich? Sicher. Ich bin eine Zimperliese, denkt sie. Und im gleichen Augenblick weiß sie, daß sie sich nicht täuscht.
    Ein Schatten. Schritte. Immer näher kommt der Schatten auf sie zu. Immer deutlicher hört sie die Schritte. Lotte Merkel geht jetzt schneller. Dann läuft sie, so schnell wie sie kann, vom Entsetzen vorwärts getrieben. Quer über den Feldweg, über Steinbrocken, über Schotter, an einer Abfallgrube vorbei.
    Nach fünfzig Metern stolpert sie. Sie fällt. Sie hat sich weh getan dabei. Aber sie will sofort wieder aufstehen und weiterlaufen. Da ist der Schatten über ihr. Ein Mann mit grinsendem, verzerrtem Gesicht. Sie will schreien, aber das Entsetzen lähmt sie. Die Arme des Mannes pressen sich brutal um sie. Sie wehrt sich verzweifelt. Die Todesangst gibt ihr Riesenkräfte. Aber was nützen sie gegen die Gewalt dieses Untieres?
    Ein Röcheln. Ein unterdrückter Schrei. Ein Stöhnen. Aus.
    Um 23 Uhr 29 passiert ein Streckenwärter der Reichsbahn, Otto Weber, die Stelle. Seine Augen sind an die Dunkelheit gewöhnt. Ein paar Minuten noch, dann hat er es geschafft und wird abgelöst für heute. Er bleibt stehen.
    In fünfzig Meter
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