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66 - Der Weg zum Glück 01 - Das Zigeunergrab

66 - Der Weg zum Glück 01 - Das Zigeunergrab

Titel: 66 - Der Weg zum Glück 01 - Das Zigeunergrab
Autoren: Karl May
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ERSTES KAPITEL
    Auf der Alm
    „Als ich drauf am Morgen schied.
Hört ich ferne noch ihr Lied,
Und zugleich mit Schmerz und Lust
Trug ich's fort in meiner Brust.
Und seitdem, wo ich auch bin,
Schwebt mir vor die Sennerin,
Und sie ruft: ‚Kehr um geschwind!‘
Auf der Alm, ja
Auf der Alm, ja
Auf der Alm, da gibt's ka Sünd!“
    So klang es hell und getragen von der Höhe in das Tal hinab, gesungen von zwei Menschenkindern, welche, obgleich verschieden nach Alter und Geschlecht, diesen dritten Vers des bekannten und beliebten Liedes aus voller Brust ertönen ließen. Ihre Gesichter glänzten förmlich vor Vergnügen, und aus ihren blitzenden Augen leuchtete die herzliche Freude über das Echo, welches ihr Jodler an den gegenüberliegenden Felswänden wachrief. Einer, der sie jetzt hätte beobachten können, wäre ganz gewiß zu der Überzeugung gekommen: „Das sind zwei gute Menschenkinder! Der Refrain ihres Liedes steht ihnen auf der Stirn geschrieben: Ja auf der Alm, da gibt's ka Sünd!“
    Die Sonne eines schönen Herbsttages neigte sich den im Westen glänzenden Gletschern und Firnen entgegen. Ihr Licht brillierte im Wasser des Giesbachs, welcher schlank und in weiten Sätzen von der östlichen Höhe sprang. Sonntägliche Ruhe lag unten im Tal, und sonntäglich war auch die Sennerin gekleidet, welche neben der Tür am Holzstoß lehnte und dem Zither spielenden Alten fröhlich zunickte.
    Sie mochte kaum achtzehn Jahre zählen, war aber körperlich und vielleicht auch geistig bereits weit über dieses Alter hinaus entwickelt. Die in niedrigen Schuhen steckenden Füßchen waren im Vergleich zu ihrer hohen, vollen Gestalt klein und niedlich zu nennen. Das kurze, aus rot und blau gestreiftem Zeug gefertigte und unten mit einer breiten Kante versehene Röckchen reichte nur wenig über das Knie herab und gab die drallen, von schneeweißen Zwickelstrümpfen umschlossenen Waden frei. Die Taille war ungewöhnlich eng und von einem glanzledernen Gürtel umschlossen, an welchem die Schlüssel hingen. Ihr Gesicht war gebräunt, energisch ausgeprägt und doch von einem weichen Ton überhaucht, der den Ausdruck innerer Selbständigkeit bedeutend milderte. Das dunkle Haar war in zwei lange, schwere Zöpfe geflochten. Man sah deutlich, daß sich die vollen Locken nur schwer der Strenge des Kammes gefügt hatten, und um die Stirn und an den beiden Schläfen hatten sich einige rebellische Kräusel befreit und krönten nun wie ein Diadem das frische Angesicht.
    Die silbernen Spangen waren von sehr alter Arbeit, wohl ein Erbstück von der Ahne her, Kette und Kreuz von ganz geringem Wert. Das Mädchen war arm, aber von der Natur mit dem größten Reichtum: Schönheit und Gesundheit, begabt, welcher wohl manche reiche, hochstehende Dame neidisch gemacht hätte. Dieser Vorzug erhielt einen ganz besonderen Wert durch eine ausgesprochene Sauberkeit. Man sah es deutlich – das Mädchen hielt etwas auf sich.
    Auch die Hütte und die ganze Umgebung derselben waren ein Bild der größten Ordnung und Reinlichkeit. Da gab es kein erblindetes Fenster und keinen Schlamm- und Schmutzsee vor der Tür, durch welchen man, wie bei so vielen Sennereien, nur auf einzelnen hineingeworfenen Steinen springend gelangen kann.
    Die Tür stand offen, und da erblickte man die weißgescheuerten Holzgefäße und den glänzenden Kessel, welcher über dem Herd hing. Auf dem schmalen Fensterbrett stand ein Vogelbauer, in welchem ein Finke sein helles ‚Fink-fing-finkferlink – würz-würz-würzgebür‘ ertönen ließ.
    Neben der Tür erhob sich eine Rasenbank, auf welcher der Alte saß, die Zither jetzt neben sich an die Mauer gelehnt. Er war ganz gewiß bereits siebzig Jahre alt. Sein graues, buschiges Haar und der mächtige weiße Schnurrwichs unter der scharf gebogenen Nase stachen recht eigenartig von dem hageren, tief gebräunten Gesicht ab. Alter und Beschwerden hatten dasselbe tief gefurcht; aber aus diesen Falten lugten tausend Schalke und Schälkchen hervor. Das Auge, wohl noch ganz so scharf wie in den Tagen der Jugend, lachte hell und freundlich unter den Wimpern hervor, und so energisch das Gesicht gezeichnet war, es zeigte doch trotzdem einen Ausdruck froher Gutmütigkeit, welcher herzgewinnend wirkte.
    Die Kleidung dieses freundlichen Alten bewies, daß auch er wohl nicht mit Glücksgütern gesegnet sei. Die derben, mit großen Nägeln versehenen Bergschuhe waren von der gröbsten Arbeit. Die grauen, wollenen Halbstrümpfe bedeckten nur die
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