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Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm
Autoren: David Sedaris
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bezeichnen können, da sie nie etwas fing und ebenso wenig je Hoffnung oder Enttäuschung bezüglich ihrer Anstrengungen äußerte. Worüber sie nachdachte, während sie auf die Wellen hinausblickte, war ein ein ziges Rätsel, doch war ihr anzusehen, dass es angenehme Gedanken waren und dass sie sich selbst besser dabei gefiel.
    In einem Jahr war mein Vater sehr spät dran mit der Reservierung, und wir mussten etwas zur Landseite nehmen. Es war kein Sommerdomizil, sondern ein heruntergekommenes Haus, wie es arme Leute bewohnen. Das Grundstück war mit einem Maschendrahtzaun umgeben, und in der Luft hingen Schwärme von Fliegen und Mücken, die normalerweise vom See wind fortgeweht werden. In der Mitte der Ferien fiel eine abscheuliche pel zige Raupe aus einem Baum und biss meine Schwester Amy in die Wange. Ihr Gesicht schwoll an und verfärbte sich, und eine Stunde später war sie nur noch dank ihrer Arme und Beine als menschliches Wesen zu erkennen. Meine Mutter fuhr mit ihr ins Krankenhaus, und nach ihrer Rückkehr behandelte sie meine Schwester wie ein seltenes Ausstellungsstück, auf das sie mit dem Finger zeigte, als handle es sich nicht um ihre Tochter, sondern um einen hässlichen Fremdling, den man zu uns ins Quartier gesteckt hatte. »Das hat man nun davon, wenn man bis zum letzten Moment wartet«, sagte sie zu unserem Vater. »Keine Dünen, keine Wellen, nur das hier.«
    Von dem Jahr an übernahm unsere Mutter die Reservierungen. Jedes Jahr im September verbrachten wir eine Woche auf Emerald Isle, und zwar immer auf der Meerseite, ein Wort, das einen gewissen Anspruch signalisierte. Die Ferienhäuser zum Meer hin standen auf Stelzen, was sie nicht größer, aber zumindest eindrucksvoller erscheinen ließ. Einige waren bunt angemalt, andere im Stil von Cape Cod an den Seiten mit Holzschindeln vertäfelt, und alle hatten einen Namen, wobei Langschläferparadies noch der originellste war. Die Besitzer hatten dem Schild die Form von zwei ne beneinander stehenden Filzpantoffeln gegeben. Die Schuhe waren realistisch gemalt, und die Buchstaben des Schriftzugs lehnten schlapp und träge an dem vermeintlich weichen Stoff.
    »Also, das ist mal ein Schild«, sagte mein Vater, und wir alle stimmten ihm zu. Die anderen hießen »Der Sturmvogel«, »Onkel Toms Hütte«, »Moby Dick«, »Die kleine Meerjungfrau«, »Zur Sandburg« oder »Piratennest«, und dahinter folgten jedes Mal Name und Heimatort der Besitzer: der Duncan Clan – Charlotte, die Graftons – Rocky Mount, Hal und Jean Starling aus Pinehurst – Schilder, deren zentrale Botschaft lautete: »Mein Heim – ich meine, eins meiner Heime.«
    Am Strand spürten wir mehr noch als sonst, wie sehr unser Leben vom Zufall abhing. War das Glück uns gewogen und es schien die Sonne, rechneten meine Schwestern und ich uns dies als persönliches Verdienst an. Wir waren eine glückliche Familie, und deshalb durften alle anderen um uns herum schwimmen oder im Sand buddeln. Wenn es regnete, hatte uns das Glück verlassen, und wir blieben im Haus und erforschten unsere Seelen. »Nach dem Mittagessen klart es auf«, sagte unsere Mutter, und wir aßen mit Bedacht und benutzten die Tischsets, die uns schon früher Glück gebracht hatten. Wenn auch das nicht half, gingen wir über zu Plan B. »Aber Mutter, du musst dich nicht so plagen«, sagten wir. »Lass uns nur das Geschirr waschen Lass uns nur den Sand vom Boden fegen.«
    Wir redeten wie die Kinder im Märchen, in der Hoffnung, durch unser vorbildliches Betragen die Sonne aus ihrem Versteck zu locken. »Du und Vater seid immer so gut zu uns. Setz dich und lass dir von uns den Nacken massieren.«
    Wenn es bis zum späten Nachmittag immer noch nicht aufgeklart hatte, ließen meine Schwestern und ich das Theater und fielen übereinander her auf der Suche nach dem Schuldigen, der für unser Pech verantwortlich war. Wer von uns war am wenigsten enttäuscht? Wer hatte sich mit einem Buch und einem Glas Schokomilch auf eine der schimmeligen Matratzen gefläzt, als sei der Regen gar nicht so schlimm? Wir würden diese Person finden, meistens war es Gretchen, und sie verprügeln.
    In dem Sommer, als ich zw ölf wurde, zog ein tropischer Sturm die Küste entlang und färbte den Himmel in dem gleichen fleckigen Zinnober wie die blauen Flecken, die Gretchen davontrug, aber im darauf folgenden Jahr begannen wir mit einer Glückssträhne. Mein Vater entdeckte einen Golfplatz, der ihm gefiel, und schien zum ersten Mal überhaupt den
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