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Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm
Autoren: David Sedaris
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Die Frau trug passend zur Jahreszeit ein leichtes Baumwollkleid mit übergroßen Gänseblümchen. Ihre Schuhe hatten die Farbe der Blütenblätter, und ihre Tasche, die schwarz-gelb gestreift war, hing lose über ihre Schulter und umschwirrte die Blüten wie ein träges Bienchen. Sie reichte den Abholschein herüber, nahm ihre Kleider in Empfang und bedankte sich für den schnellen und zuverlässigen Service. »Wissen Sie«, sagte sie, »es wird viel über Raleigh geredet, aber das stimmt alles nicht, nicht wahr?«
    Der Koreaner hinter der Theke nickte in der Art eines Ausländers, der verstanden hat, dass sein Gegenüber gerade einen Satz beendet hat. Er war nicht der Geschäftsinhaber, sondern bloß eine Aushilfskraft, die normalerweise hinten im Laden arbeitete, und es war offensichtlich, dass er keine Ahnung hatte, wovon die Rede war.
    »Meine Schwester und ich sind zu Besuch hier«, sagte die Frau, diesmal ein wenig lauter, und wieder nickte der Mann. »Ich würde gerne noch etwas bleiben und mich umsehen, aber mein Heim – ich meine, eins meiner Heime – steht bereit für die Gartensaison, und ich muss zurück nach Willi amsburg.«
    Ich war elf Jahre alt, doch selbst mir kam der Satz merkwürdig vor. Wenn sie damit den Koreaner beeindrucken wollte, war ihre Mühe vergebens, für wen also war die Information?
    »Mein Heim – ich meine, eins meiner Heime«: Bis zum Abend hatten meine Mutter und ich den Satz garantiert fünfzigmal wiederholt. Die Gartensaison war nebensächlich, aber der erste Teil ihres Satzes war ein echter Knüller. Es gab, wie der Gedankenstrich zeigt, eine Pause zwischen den Wörtern »Mein Heim« und »ich meine«, ein kurzer Moment, in dem sie gedacht haben muss: Ach, warum nicht? Das darauf folgende Wort – »eins« – war wie ein sanfter Hauch aus ihrem Mund gekommen, und genau das war der schwierigste Teil. Man musste es genau hinbekommen, sonst verlor der Satz seine Wirkung. Irgendwo zwischen einem selbstbewussten Lachen und einem Seufzer zufriedener Verwirrung, verschaffte das »eins« der Aussage eine doppelte Bedeutung. Für Leute ihres Standes hieß er: »Seht her, ich bin ständig unterwegs!«, und den weniger Betuchten signali sierte er: »Macht euch nur keine falschen Vorstellungen, mehr als ein Haus zu haben bedeutet jede Menge Arbeit.«
    Die ersten Dutzend Male klangen unsere Stimmen gezwungen und hochnäsig, doch gegen Nachmittag näherten wir uns ihrem weichen Tonfall. Wir wollten, was diese Frau hatte. Sie nachzuäffen ließ den Wunsch nur umso unerreichbarer erscheinen, sodass wir zu unserer eigenen Ausdrucksweise zurückkehrten.
    »Mein Heim – ich meine, eins meiner Heime...« Meine Mutter sagte es so schnell, als fühle sie sich zu größerer Genauigkeit verpflichtet. Genau wie wenn sie sagte: »Meine Tochter– ich meine, eine meiner Töchter«; nur machte ein zweites Heim deutlich mehr her als eine zweite Tochter, sodass es nicht wirklich funktionierte. Ich ging in die entgegengesetzte Richtung und betonte das »eins« so stark, dass meine Zuhörer es als aufdringlich empfinden mussten.
    »Wenn du es so sagst, machst du die Leute bloß neidisch«, sagte meine Mutter.
    »Aber das wollen wir doch, oder?«
    »In gewisser Weise schon«, sagte sie. »Aber vor allem sollen sie sich für uns freuen.«
    »Wer freut sich denn für jemanden, der mehr hat als man selbst?«
    »Ich denke, das kommt ganz auf die Person an«, sagte sie. »Ist aber auch egal. Wir werden die richtige Aussprache schon hinbekommen. Wenn der Tag kommt, da bin ich mir sicher, wird es wie von selbst gehen.«
    Und so warteten wir.
    Irgendwann zwischen Mitte und Ende der sechziger Jahre begann North Carolina sich selbst als »Ferienland für jeden Geschmack« zu bezeichnen. Der Slogan erschien auf den Autokennzeichen, und eine Reihe von Fernsehspots erinnerte uns daran, dass wir anders als gewisse Nachbarn sowohl Strand als auch Berge hatten. Es gab Leute, die zwischen beiden ständig hin und her hüpften, doch die meisten entschieden sich einmal für eine Landschaft und blieben dabei. Wir beispielsweise waren Strandurlauber, Emerald-Isle-Urlauber, auch wenn das hauptsächlich an meiner Mutter lag. Ich glaube nicht, dass mein Vater sich überhaupt etwas aus Urlaub machte.
    Sobald er von zu Hause fort war, wurde er reizbar und nervös, doch unsere Mutter liebte das Meer. Sie konnte nicht schwimmen, aber sie stand gerne mit einer Rute in der Hand am Ufer. Man hätte es nicht unbedingt als Angeln
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