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Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm
Autoren: David Sedaris
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mit schlottrigen Beinen und sich eng um die Knöchel spannenden Bündchen. Man hätte Turnschuhe zu einem solchen Outfit erwartet, doch stattdessen hatte er schwarze Halbschuhe an. Das Tor zur Straße stand offen, und als er die Treppe heraufkam, fiel mir ein, womit ich gerade beschäftigt war und wie befremdlich es dem Besucher vorkommen musste. Einen Moment dachte ich, dem Mann entgegenzugehen, doch da stand er schon auf dem Treppenabsatz und streckte zur Begrüßung seine Hand aus. Ich nahm sie, als er das leise Plätschern hörte und in den Eimer sah. »Oh«, sagte er. »Wie ich sehe, haben sie eine kleine Schwimmmaus.« Sein Tonfall schien keine Erklärung zu verlangen, also verkniff ich mir einen Kommentar. »Meine Frau und ich haben einen Hund«, fuhr er fort. »Aber wir haben ihn nicht mitgenommen. Zu umständlich.«
    Ich nickte, und er hielt seine Karte hin, die Kopie einer Kopie, auf der lauter Pfeile eingezeichnet waren und dazu Erklärungen in einer Sprache, die ich nicht kannte. »Ich glaube, ich habe drinnen was Besseres«, sagte ich und bat ihn ins Haus.
    Ein unerwarteter und fremder Besucher erm öglicht es einem, die vertrau ten vier Wände wie zum ersten Mal zu sehen. Ich denke da an den Stromableser, der um acht Uhr früh durch die Küche stiefelt, oder die Zeugen Jehovas, die ganz unverhofft im Wohnzimmer stehen. »Bitte sehr«, scheinen sie zu sagen. »Sehen Sie mit meinen Augen. Der Blick ist viel schärfer.« Ich hatte unsere Wohnküche immer für sehr einladend gehalten, aber als ich durch die Tür trat, stellte ich fest, dass ich mich geirrt hatte. Der Raum war nicht schmutzig oder unaufgeräumt, aber ebenso wie zu nachtschlafender Zeit noch auf zu sein, hatte er etwas leicht Verdächtiges. Ich sah auf das anatomische Modell, das ausgebreitet auf dem Tisch lag. Die Einzelteile lagen im Schatten eines großen ausgestopften Huhns, das sie argwöhnisch zu betrachten und sich zu fragen schien, welches Organ wohl das schmack hafteste wäre. Der Tisch war ganz ansehnlich – solide getischlerte Eiche –, aber die Stühle waren wild zusammengewürfelt und alle mehr oder weniger reparaturbed ürftig. Über einer Stuhllehne hing ein Handtuch mit dem Auf druck des amtlichen Leichenbestatters von Los Angeles. Wir hatten es nicht gekauft, sondern geschenkt bekommen, aber es hing eben da und lenkte den Blick auf ein daneben stehendes Sofa, auf dem zwei Ausgaben eines reißerischen Magazins über wahre Verbrechen lagen, das ich nur deshalb regelmäßig kaufe, um mein Französisch zu verbessern. Auf dem Co ver der jüngsten Ausgabe war das Bild einer jungen belgischen Frau abge bildet, die beim Zelten mit einem Schlackeziegel erschlagen worden war. »Lauert in ihrer Gegend ein Serienmörder?«, fragte die Schlagzeile. Die zweite Ausgabe war auf der Seite mit dem Kreuzworträtsel aufgeschlagen, mit dem ich mich früher am Abend beschäftigt hatte. Eine der Fragen laute te übersetzt »weibliches Geschlechtsorgan«, und in die entsprechenden Kästchen hatte ich das französische Wort für Vagina eingetragen. Es war das erste Mal, dass ich ein Wort in einem französischen Kreuzworträtsel wusste, und zur Feier des Tages hatte ich hinter jeden einzelnen Buchstaben fette Ausrufezeichen gesetzt.
    Ein bestimmtes Thema schien sich herauszuschälen und durch immer neue Hinweise zu verdichten: Das Handbuch für Pistolen und Gewehre, das rein zufällig ganz vorne im Regal stand, oder das Hackmesser, das aus unerfindlichen Gründen auf einer Fotografie der Enkelin unseres Nachbarn lag.
    »Das hier ist mehr unser Sommerhaus«, sagte ich, und der Mann nickte. Er betrachtete den Kamin, dessen Öffnung etwas höher als er selbst war. Ich sehe meist nur das solide Mauerwerk und den hohen Eichensims, doch ihn interessierten vor allem die spitzen Haken, die aus dem rußgeschwärzten Innern herunterhängen.
    »Sämtliche Häuser entlang der Strecke waren dunkel«, sagt er. »Wir sind, glaube ich, seit Stunden unterwegs, um jemanden zu finden, der noch wach ist. Dann sahen wir bei Ihnen Licht, die offene Tür ...« Ich kannte diese Worte aus unzähligen Horrorfilmen, der unberechenbare Gast, der sich dem Grafen, dem verrückten Wissenschaftler, dem Werwolf vorstellt, um sich im nächsten Augenblick zu verwandeln.
    Es tut mir wirklich leid, Sie zu bel ästigen.
    Ach, keine Ursache, ich war gerade dabei, eine Maus zu ertr änken. Kommen sie doch rein.
    »Tja«, sagt der Mann. »Sie sagten, Sie hätten eine Straßenkarte.«
    Ich
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