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Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm
Autoren: David Sedaris
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bedeutsamere Geräusche übertönt – und zwar die schlur fenden Schritte der Untoten.
    An dem Abend, als der Kombi vor dem Haus hielt, war ich in unserer Wohnk üche und versuchte ein ziemlich kompliziertes anatomisches Modell eines Menschen zusammenzusetzen Der Rumpf bestand aus durchsichtigem Plastik, in den man die verschiedenen Organe einsetzen musste, deren Farben von leuchtend rot bis zu einem stumpfen, absto ßenden Purpur reich ten. Wir hatten es als Geburtstagsgeschenk für einen Dreizehnjährigen gekauft, der es als ätzend bezeichnet und damit für unbrauchbar und wertlos erklärt hatte. Im Sommer davor hatte er noch Arzt werden wollen, doch schien er in den folgenden Monaten seine Meinung geändert zu haben und wollte jetzt lieber Schuhdesigner werden. Ich schlug ihm vor, wenigstens die Füße zu behalten, doch als er nur die Nase rümpfte, drückten wir ihm zwanzig Euro in die Hand und behielten das Modell für uns. Ich hatte gera de den Verdauungsapparat in seine Einzelteile zerlegt, als ich über mir ein vertrautes Geräusch hörte und den halben Dickdarm zu Boden fallen ließ.
    Neben unserem Haus steht ein Walnussbaum, und jedes Jahr sammelt Hugh die Nüsse ein und legt sie zum Trocknen auf den Dachboden. Kurz danach kommen die Mäuse ins Haus. Ich weiß nicht, wie sie die Treppe heraufkommen, aber sie sind da, und ganz oben auf ihrer Liste steht, sich über Hughs Walnüsse herzumachen. Die Nüsse sind viel zu groß, um sie im Maul wegzuschaffen, also rollen die Mäuse sie quer über den Dachboden bis zu ihren Nestern, die sie in den Ritzen zwischen der Wand und dem Dachgebälk bauen. Dort stellen sie fest, dass die Walnüsse nicht hineinpassen. Ich kann mich darüber amüsieren, aber Hugh denkt anders und stellt auf dem Dachboden Fallen auf, die ich in der Regel entschärfe, bevor sich eine Maus darin verirrt. Bei Ratten wäre es etwas anderes, aber eine Hand voll Mäuse? »Also wirklich«, sage ich. »Kann es putzigere Tiere geben?«
    Manchmal, wenn mir das Gerolle auf die Nerven geht, mache ich auf dem Dachboden das Licht an und tue so, als ob ich die Treppe heraufkäme. Eine Zeit lang herrscht dann Ruhe, aber in dieser Nacht wollte der Trick nicht funktionieren. Die Geräusche hielten an, aber es klang eher so, als würde etwas über den Boden geschleift anstatt gerollt. Eine Dachschindel? Eine schwere Scheibe Toast? Ich knipste wieder das Licht an, und als das Geräusch nicht aufhörte, stieg ich nach oben und fand eine Maus in einer von Hughs Fallen. Ihr Hinterteil war unter dem Metallbügel eingeklemmt, und sie zerrte die Falle in einem kleinen Kreis hinter sich her, nicht in der Agonie des Todes, sondern mit unbeugsamer Entschlossenheit und dem Vorsatz, trotz des ungewohnten Handikaps weiterzumachen. »Ich komme schon damit klar«, schien sie zu sagen. »Wirklich. Gebt mir nur eine Chance.«
    Ich konnte sie unmöglich in diesem Zustand lassen, also schob ich die Maus mitsamt der Falle in einen Pappkarton und brachte sie nach unten auf die Veranda Die frische Luft, dachte ich, würde ihr gut tun, und wenn sie erst aus der Falle heraus wäre, könnte sie die Stufen hinunter in den Garten flitzen, fort von dem Haus, das für sie jetzt mit so schmerzhaften Erinnerungen verknüpft war. Ich hätte den Bügel mit den Fingern hochdrücken sollen, aber aus Angst, sie könnte mich beißen, hielt ich die Falle mit dem Fuß fest und versuchte sie mit dem Ende eines Metalllineals aufzuhebeln. Eine ziemlich schwachsinnige Idee. Kaum war der Bügel oben, schnappte er auch schon wieder zu, diesmal der Maus genau ins Genick. Meine nächs ten drei Versuche waren ähnlich schmerzhaft, und als sie endlich frei war, schleppte sie sich bis zur Fußmatte, jeden einzelnen Knochen im Leib min destens viermal gebrochen. Jeder konnte sehen, dass sie nicht wieder auf die Beine kommen würde. Nicht einmal ein Tierarzt hätte diese Maus wieder hinbekommen, weshalb ich beschloss, das Tier von seinem Leiden zu erlösen und es zu ertränken.
    Der erste Schritt, und für mich der schwierigste des ganzen Unterfangens, bestand darin, in den Keller zu gehen und einen Eimer zu holen. Ich musste dazu die gut ausgeleuchtete Veranda verlassen, ums Haus herumge hen und in das unzweifelhaft finsterste und furchterregendste Loch in ganz Europa hinabsteigen. Eine niedrige Decke, Steinwände, ein verdreckter Boden, auf dem die Abdrücke von Tatzen zu sehen sind. Ich gehe nie hinein, ohne mich vorher laut anzukündigen. »Hüah!«, rufe
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