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Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm
Autoren: David Sedaris
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Schwester Lisa bekam die gleiche Nachricht und war sich nicht sicher, ob der Fötus auf ein zusätzliches einundzwanzigstes Chromosom oder auf die Möglichkeit einer späteren Filmkarriere untersucht werden sollte. »Ich bin mir ziemlich sicher, die können inzwischen ein Schauspielergen feststellen«, sagte sie.
    Im sechsten Monat war das einzige noch ungelüftete Geheimnis das Geschlecht des Kindes Paul und seine Frau stellten Vermutungen an, aber keiner von beiden wollte es wirklich wissen. Das bringt Unglück, sagten sie, nur was war daran schlimmer, als ein komplettes Kinderzimmer einzurichten oder die Kuverts für die Geburtsanzeigen schon vorher zu schreiben? Wie alle anderen in der Familie hatte auch ich eine Liste mit Namensvorschlägen, die ich am Telefon immer wieder ins Gespräch brachte: Dusty, Ginger, Kaneesha – alle drei wurden abgelehnt. Die Bauarbeiter und Zimmerleute, mit denen mein Bruder zusammenarbeitete, schlugen ebenfalls Namen vor, die meisten inspiriert durch den drohenden Krieg oder durch das Bild Amerikas als getrübtes, aber immer noch strahlendes Leuchtfeuer. Liberty war ausgesprochen beliebt, genau wie Glory oder das italienisch angehauchte Vendetta und Poliert-Saddams-Arsch, was, wie mein Vater bemerkte, wenig Platz für einen zweiten Vornamen ließ. Seine Vorschläge waren ausnahmslos griechische Namen, die er ohne jedes Gespür für den Spott, den sie ihrem Träger bescheren würden, in die Runde warf. »Du kannst unmöglich in die dritte Klasse gehen und Herkules heißen«, erklärte Lisa. »Und das Gleiche gilt für Lesbos, ganz egal, wie hübsch es klingt.«
    Schließlich war da noch der Druck, das Kind nach den Großeltern zu nennen. Lou und Sharon waren im Gespräch, aber es gab auch noch die Großeltern auf Kathys Seite »Ach, richtig«, sagte meine Schwester Amy. »Die.« Die Wilsons waren nette Leute, aber wir betrachteten sie eher als Eindringlinge und potenzielle Bedrohung, die sich zwischen uns und das zukünftige Sedaris-Baby stellten. »Haben Kathys Eltern nicht schon ein Enkelkind?«, fragte ich, als wäre ein Enkelkind so etwas wie eine Sozialversicherungsnummer oder eine Wirbelsäule – etwas, wovon man nicht mehr als eins brauchte. Wir beschlossen, sie wären unersättlich und zu allem fähig, doch als es darauf ankam, versagten wir auf der ganzen Linie. Ihre Mannschaft war vollständig aufgelaufen, als das Kind geboren wurde, während wir nur durch Lisa und unseren Vater vertreten waren. Kathy lag fünfzehn Stunden in den Wehen, bis die Ärzte entschieden, das Kind per Kaiserschnitt zu holen. Die Nachricht wurde ins Wartezimmer weitergeleitet, und als es so weit war, sah mein Vater auf die Uhr und sagte: »Also, ich denke, jetzt setzen sie das Messer an« Dann ging er nach Hause, um den Hund zu füttern. Zu diesem Zeitpunkt lag der Name Lou noch gleichauf mit Adolph und Beelzebub, aber zuletzt waren alle drei aus dem Rennen, denn es war ein Mädchen.
    Der offizielle Name lautete Madelyn, doch auf dem Weg bis zum Brutkasten war daraus schon Maddie geworden. Ich war zu der Zeit in einem Hotel in Portland, Oregon, und erhielt die Nachricht von meinem Bruder, der vom Aufwachraum des Krankenhauses aus anrief. Seine Stimme war sanft und melodisch, kaum mehr als ein Flüstern »Mama hat ein paar Schläuche in ihrer Muschi, aber sonst ist alles okay«, sagte er. »Sie liegt auf ihrem Kissen, und die kleine Maddie nuckelt an ihrer Titte.« Das war der neue, empfindsamere Paul: Das Vokabular war das alte, aber der Ton war sanfter und gereift durch einen Sinn für die Wunder im Leben. Der Kaiserschnitt war unappetitlich gewesen, aber nachdem er sich über die vielen Stunden beklagt hatte, die er sinnlos im Geburtsvorbereitungskurs nach Lamaze verbracht hatte, wurde er nachdenklich »Die einen werden rausgeschnitten, und die anderen kommen von selbst, aber sei gewarnt, Bruder: So eine Geburt ist ein verdammtes Wunder.«
    »Sagtest du gerade: ›Sei gewarnt‹?«, fragte ich.
    Kathy kam im Laufe der Woche nach Hause, aber es gab Komplikationen. Ihre Beine schwollen an Sie bekam keine Luft mehr. Mit dem Notarztwagen wurde sie zurück in die Klinik gefahren, wo man ihr dreißig Pfund Körperflüssigkeit absaugte: eingelagertes Wasser und, zu ihrer großen Enttäuschung, die Milch aus ihren Brüsten. »Es kommt noch welche nach«, sagte Paul, »aber wegen der vielen Medikamente, die sie nehmen muss, sollen wir nur abpumpen und entsorgen.« Er hatte den Ausdruck vom Arzt
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