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Benkau Jennifer

Benkau Jennifer

Titel: Benkau Jennifer
Autoren: Phoenixfluch
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1
    Nur wer dunkel ist mit der Nacht, wird mit dem Morgenrot erwachen .
    Khalil Gibran, Sämtliche Werke
    H elena hatte immer an das Schicksal geglaubt. Dieser halb nackte Mann, der vor ihren Augen das Geländer der Eisenbahnbrücke überkletterte, musste demnach etwas bedeuten. Es war kein Zufall, dass ihre Staffordshire Hündin auf diesen Weg bestanden hatte. Den höheren Mächten sei Dank, war sie Cat vertrauensvoll gefolgt.
    „Hallo?“ Noch ehe ihr Verstand so weit war, zu akzeptieren, was der Mann überhaupt vorhatte, wusste sie, dass sie ihn aufhalten musste. „Klettern Sie lieber wieder zurück, es ist reichlich gefährlich, was Sie da machen.“
    Wollte er wirklich springen? Eine Böe trieb ihr das Haar ins Gesicht, als sie die Brücke betrat. Wie rote Flammen zuckten die Strähnen vor ihren Augen, die eingeflochtenen Holzperlchen schlugen aneinander und peitschten ihr gegen Kiefer und Kinn. Sie nahm ihre Haare mit einer Hand zurück und hielt sie im Nacken fest. Langsam, die Finger der anderen Hand um Cats Halsband geschlossen, näherte sie sich dem Mann. Die Brücke war schmal, nur für Fußgänger und Radfahrer ausgelegt. In den Fichtenwäldern zu beiden Seiten der Schlucht, die von den Bahngleisen glänzend durchschnitten wurde, rauschten Regen und Wind.
    Der Mann löste eine Hand von dem nassen Metallgitter und rieb sich über die Stirn. „Himmel, wo kommen Sie denn her? Ich habe Sie nicht gesehen. Ich dachte, ich sei allein.“
    Helena war nun so nah, dass sie sein Gesicht erkennen konnte, solange die dahinjagenden Wolken das Licht des Mondes nicht verschleierten. Er war kaum älter als sie, trug nichts als Boxershorts am Leib und blickte ausgesprochen ungerührt aus der spärlich vorhandenen Wäsche. Jemanden, der kurz davorstand, seine Todessehnsucht in die Tat umzusetzen, hatte sie sich emotional bewegter vorgestellt. Doch dieser Mann schien lediglich ein wenig genervt über die Störung. Ob er Drogen genommen hatte?
    Cat gab ein fragendes Winseln von sich.
    Helena räusperte sich. „Hören Sie, es macht mich nervös, wenn Sie da rumturnen. Bitte kommen Sie wieder rüber, okay?“
    Mist, warum hatte sie kein Handy dabei? Hilfe zu holen könnte einige Zeit dauern, sie waren mitten im Wald. Er würde gewiss nicht warten, bis sie das nächste Haus erreicht und die Polizei gerufen hatte.
    Er atmete langgezogen ein und lächelte. „Können Sie mir einen Gefallen tun?“
    „Natürlich, sobald Sie …“
    „Gehen Sie einfach. Vergessen Sie, dass Sie mich gesehen haben. Ich weiß, Zivilcourage ist wichtig, aber machen Sie in meinem Fall bitte eine Ausnahme. Ich gehöre nicht zu denen, die aufgehalten werden wollen.“
    Helena krallte die freie Hand in ihren bodenlangen Rock, was diesen ein Stück anhob. Sein Blick fiel auf ihre nackten Füße und er runzelte die Stirn. Jetzt hielt er sie vermutlich für geisteskrank, weil sie an einem späten Herbstabend barfuß im Wald spazieren ging. Womöglich lenkte ihn das hinreichend ab.
    „Kommen Sie.“ Mit dem großen Zeh zog sie Linien in den von Fichtennadeln bedeckten Boden. „Sie wollen da nicht runterspringen.“
    „Leider bleibt mir nichts anderes übrig.“
    Keine beruhigende Antwort. Was sollte sie tun? In ihrer Kehle bildete sich ein dicker Kloß und ihre Beine begannen zu zittern. Sein Blick war sanft und seine regennasse Haut glänzte im Mondlicht wie mit Silber übergossen, was seine Muskulatur betonte. Sein Oberkörper war bis in die letzte Faser durchtrainiert. So ein Bild von einem Mann beging doch keinen Suizid.
    Er seufzte. „Ich möchte wirklich nicht, dass Sie das mit ansehen müssen, also gehen Sie bitte. Und seien Sie vorsichtig, wo Sie hintreten, da hinten liegen Scherben.“
    „Danke für den Hinweis.“ Helena trat einen Schritt näher an die Brüstung und legte die Hände darauf. Nun trennte sie nur noch ein knapper Meter von dem Mann. Sie fragte sich, ob sie ihn würde festhalten können. Wohl kaum, er wog bestimmt knapp dreißig Kilo mehr als sie. „Warum hier?“, wollte sie wissen. Vielleicht konnte sie Zeit schinden. Ihn irgendwie zum Reden bringen, bis ihm klar wurde, wie dumm es war, was er zu tun gedachte.
    Er lehnte die Unterarme auf die Brüstung, wie sie es tat, nur von der anderen, weit unsicheren Seite des Geländers. Ein Schritt zurück und er würde fallen.
    „Warum nicht? Was ist schlecht an diesem Ort?“
    Sie warf einen abwertenden Blick nach unten. „Nun, das sieht nicht besonders tief aus, finde ich. Das
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