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Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm
Autoren: David Sedaris
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den Tomkeys nicht so direkt sagen. Um ihr Empfinden zu schonen, wollte sie so tun, als hätten wir ständig einen Eimer voller Süßigkeiten irgendwo im Haus he rumstehen und warteten nur darauf, dass jemand an die Tür klopfte und da nach fragte. »Na los doch«, sagte sie. »Nun macht schon.«
    Mein Zimmer lag gleich neben dem Eingang, und wenn die Tomkeys dorthin geschaut hätten, hätten sie mein Bett mit der braunen Einkaufstüte und der Aufschrift MEINS! PFOTEN WEG! gesehen. Damit sie nicht mitbekamen, wie viel ich hatte, ging ich in mein Zimmer und machte die Tür hinter mir zu. Dann zog ich die Vorhänge vor und schüttete den Inhalt der Tüte auf mein Bett, um das auszusortieren, was ich am wenigsten mochte. Seit Kindertagen vertrage ich keine Schokolade. Ich weiß nicht, ob ich dagegen allergisch bin oder was, jedenfalls bekomme ich schon von einem winzigen Stück höllische Kopfschmerzen.
    Mit der Zeit lernte ich, die Finger davon zu lassen, doch als Kind wollte ich nicht zurückstecken. Hatte ich Brownies gegessen und es fing in meinem Kopf an zu hämmern, lag das am Traubensaft oder am Zigarettenqualm meiner Mutter oder am Druck des Brillengestells – nur niemals an der Schokolade. Meine Schokoriegel waren deshalb Gift, aber es waren alles bekannte Marken, also kamen sie auf Stapel Nr. 1, der ganz bestimmt nicht an die Tomkeys gehen würde.
    Drau ßen im Flur hörte ich, wie meine Mutter verzweifelt ein Gespräch in Gang zu bringen versuchte. »Ein Boot!«, sagte sie. »Das klingt großartig. Können Sie damit gleich ins Wasser fahren?«
    »Wir haben dafür einen Anhänger«, sagte Mr. Tomkey. »Damit setzen wir rückwärts ins Wasser.«
    »Oh, einen Anhänger. Was für eine Sorte?«
    »Nun ja, einen Bootsanhänger«, sagte Mr. Tomkey.
    »Sicher, aber ich meine, einen aus Holz oder... also, es würde mich interessieren, was für ein Typ Anhänger es ist?«
    Die Sätze meiner Mutter enthielten zwei Botschaften. Die erste und offensichtliche war »Ja doch, ich rede von Bootsanhängern, und ich habe nicht den leisesten Schimmer davon.« Die zweite, die nur für meine Schwestern und mich bestimmt war, hieß: »Wenn ihr nicht sofort mit den Süßigkeiten anrückt, ist es mit Freiheit, Freude und der Aussicht auf eine herzliche mütterliche Umarmung ein für alle Mal vorbei.«
    Ich wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie in mein Zimmer käme und sich irgendwelche Süßigkeiten schnappte, ohne jede Rücksicht auf mein Bewertungssystem. Ein einziger klarer Gedanke hätte ausgereicht, die wertvollsten Posten in der Kommodenschublade verschwinden zu lassen, doch befiel mich bei der Vorstellung, ihre Hand könne bereits nach dem Türknauf greifen, eine solche Panik, dass ich damit begann, die Papiere ab zureißen und mir einen Riegel nach dem anderen in den Mund zu schieben wie bei einem Wettfressen. Die meisten waren Miniriegel, die sich leichter im Mund verstauen ließen, doch war der Platz begrenzt, und es war auch nicht ganz einfach, gleichzeitig zu kauen und weitere Riegel nachzuschieben. Der Kopfschmerz setzte auch unverzüglich ein, doch führte ich dies auf die Anspannung zurück.
    Meine Mutter erklärte den Tomkeys, sie müsse kurz etwas nachschauen, dann öffnete sie die Tür und steckte den Kopf in mein Zimmer. »Was zum Teufel machst du da?«, flüsterte sie, aber ich konnte ihr mit meinem vollgestopften Mund keine Antwort geben. »Bin gleich wieder da«, rief sie, zog die Tür hinter sich zu und kam auf mein Bett zu. Im gleichen Moment begann ich damit, die Brausetaler und Traubenzuckerketten von Stapel Nummer zwei zu zerbrechen. Es waren die zweitbesten Sachen, die ich bekommen hatte, und so weh es mir tat, sie zu zerstören, noch schmerzhafter wäre es gewesen, sie einfach wegzugeben. Ich war gerade dabei, eine kleine Schachtel Fruchtdrops zu zerpflücken, als meine Mutter sie mir aus der Hand riss und ein Sturzbach großkalibriger Kugeln klackernd über den Fu ßboden hüpfte. Noch während ich Ihnen hinterher sah, schnappte sie sich bereits eine Rolle Schaumzuckerwaffeln.
    »Die nicht«, bettelte ich, wobei mein Mund anstelle von Wörtern nur halb gekaute Schokolade absonderte, die auf dem Ärmel ihres Pullovers landete. »Die nicht. Die nicht.«
    »Du solltest dich nur mal sehen«, sagte sie. »Ich meine, dich wirklich einmal ansehen.«
    Außer den Schaumzuckerwaffeln nahm sie noch eine Hand voll Kirschlutscher und ein halbes Dutzend einzeln eingepackter Sahnebonbons. Ich hörte, wie sie
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