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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben
Autoren: Aufbau
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sehen war. Wenn Mutter mich ärgern wollte, nannte sie es »das Zahnarztfoto«.
    Es hing neben der Tür zu unserem Kinderzimmer, das mit zwei Betten, einem Kleiderschrank und einem Schreibtisch genauso übersichtlich eingerichtet war wie der Rest der Wohnung. Der Teppich war voller Krümel, und vor Ingrids Bett befand sich ein Kotzfleck, der aussah wie Snoopy im Profil. An den Wänden klebten Tierposter und Wachsmalbilder, und über mein Bett hatte ich eine Collage aus Cowboybildern gehängt, die ich aus Fernsehzeitungen und Comics zusammengeschnipselt hatte.
    Von unserem Fenster aus blickte man auf eine vielbefahrene Kreuzung mit Geschäften und Bahnhaltestelle, wobei ein Teil der Scheibe ganzjährig mit Weihnachtssternen aus Transparentpapier und ähnlichem Kram zugekleistert war. Ingrid und ich saßen oft auf dem Fensterbrett, drückten die Stirn gegen die Scheibe, schauten uns die Menschen auf der Straße an und fragten uns gegenseitig: »Wer bist du?«
    Dann pickten wir uns Leute heraus, die auf die Bahn warteten |10| oder an der Imbissbude ihre Pommes futterten, und dachten uns Geschichten zu ihnen aus. Wir überlegten uns, wie sie hießen, was sie in ihren Tüten hatten, woher sie kamen oder wohin sie fahren würden. Wenn sie sich miteinander unterhielten, verstellten wir unsere Stimmen, vertonten die Leute, ließen sie miteinander tratschen oder fluchen. So hat Ingrid wohl ihre ersten Schimpfwörter gelernt, und es hat mir Spaß gemacht, sie zum Lachen zu bringen und mir immer neue Albernheiten auszudenken.
     
    Eines Abends spielten Ingrid und ich in einer Höhle, die wir uns aus einer Decke und dem Schreibtisch gebaut hatten. Draußen dämmerte es, und wir hatten das Licht im Zimmer nicht angeschaltet. In der Dunkelheit der Höhle funzelten wir mit einer Taschenlampe herum, die ich dem Hausmeister meiner Schule aus der Werkzeugkiste geklaut hatte. Ich drückte mir die Lampe gegen das Kinn und schnitt Grimassen. Ingrid kicherte.
    Irgendwann klingelte es an der Tür, und wenig später hörten wir Franz’ Stimme aus dem Wohnzimmer. In unseren Augen war Franz ein Riese. Wie man Wasser verdrängt, wenn man in eine Wanne steigt, schien Franz Raum zu verdrängen, wenn er in ein Zimmer kam, und alle Gegenstände um ihn herum schrumpften. Franz war immer laut. Ingrid duckte sich schon, wenn er nur in ihre Nähe kam, bevor er überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Er war laut, wenn er redete, wenn er lachte, wenn er sich mit Mutter stritt, und wenn sie miteinander vögelten. In solchen Momenten kuschelten Ingrid und ich uns in ihrem Bett aneinander, zogen uns die Decke über den Kopf, und ich erzählte ihr Geschichten, um sie abzulenken. Es war, als schlüpften wir dabei wie Alice im Wunderland durch ein Erdloch in eine Welt, die für niemanden außer uns zugänglich war.
     
    |11| »Hab dir was mitgebracht.«
    Ohne anzuklopfen, war Franz in unser Zimmer gekommen und hockte nun vor der Höhle. Ich streckte meinen Kopf heraus. Franz hielt mir einen flauschigen Hundewelpen entgegen, und Mutter lehnte lächelnd im Türrahmen und zwinkerte mir zu.
    »Hat noch keinen Namen«, sagte Franz und setzte den Welpen ab, der auf wackeligen Beinen auf mich zutapste. »Nachträglich zum Geburtstag. So was wollteste doch, oder?« Bevor Franz sich erhob, streichelte er dem Hund über den Rücken, doch es war mehr ein Zupacken und Durchschütteln. Als er an Mutter vorbei aus dem Raum verschwand, sagte er, an sie gerichtet: »Zufrieden?« Sie machte einen Schritt in unser Zimmer, aber Franz griff sie am Arm. »Jetzt nicht mit den Lütten spielen. Lass mal den Sekt aufmachen.« Damit zog er unsere Zimmertür von außen zu.
    Schon zu meinem Geburtstag im Jahr zuvor hatte ich mir einen Hund gewünscht und seitdem immer wieder erfolglos herumgebettelt. Mutter hatte sich auf keine Diskussion eingelassen. Anfangs hatte sie mir noch erklärt, wie viel Arbeit ein Hund mache, aber irgendwann zischte sie nur noch genervt, dass ich meine Klappe halten solle, und schließlich reagierte sie einfach nicht mehr auf mein Quengeln. Im Laufe der Zeit hatte sie mich längst davon überzeugt, dass es lästig war, jeden Tag mehrmals mit einem Hund Gassi gehen zu müssen, aber ich bettelte aus Gewohnheit weiter.
    Als der Hund nun vor mir hockte und an meinen Füßen schnüffelte, gaffte ich ihn ratlos an. Erst als Ingrid unter dem Schreibtisch hervorgekrochen kam, sich vor den Hund auf den Boden legte und kichernd ihre Nase gegen seine Schnauze drückte,
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