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Nachtengel

Titel: Nachtengel
Autoren: Danuta Reah
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ihre Heimat zurückgeschickt werden.
    Der Flüchtlingsrat sagte, Anna sei das Opfer eines Verbrechens, keine Täterin, und sie müsse aufgrund der gegen sie verübten Verbrechen behandelt werden, und diese Therapie werde sie nicht bekommen können, wenn man sie zurückschicke.
    Farnham hatte Anna besucht, als sie noch im Krankenhaus war, wo man sie auf einen bisher unentdeckten Schaden untersuchte, der der Grund für ihr endloses Schweigen sein konnte. Er hatte ihr in Begleitung des zuständigen Arztes ein Foto von Sean Lewis gezeigt. Einen Augenblick war auf ihrem blassen, abweisenden Gesicht schreckliche Angst zu sehen, und dann reagierte sie nicht mehr. Anna ging hin, wo immer man sie hinschickte, tat alles, was man von ihr verlangte, aber ihre Augen blieben leer und leblos. Als Lynne ihr ausdrucksloses Gesicht betrachtete, lastete auf ihr erneut die Verantwortung für die Stunden, die sie verloren hatte.
    Angel Escorts, jetzt Lynnes erste Priorität, war und blieb verschwunden, als habe es nie eine solche Agentur gegeben.
    Es klopfte an der Tür, und Roy Farnham kam herein. Sie hatten seit dem Sonntag, als er Nasim Rafiq zur Vernehmung mitgenommen hatte, keinen privaten Kontakt mehr gehabt. »Ich habe Neuigkeiten«, sagte er schließlich. Lynne wartete ab. »Rafiq«, sagte er. »Man lässt sie gehen, bei der Einwanderungsbehörde.«
    Lynne war überrascht. »Sie legen ihr nichts zur Last?«
    Er schüttelte den Kopf. »Sie handelte unter Zwang und hat doch auch bei der Ermittlung mitgearbeitet, hat Beweise gesammelt und weitergegeben – die Notizen in dem Lehrbuch«, fügte er hinzu. »Sie haben den Typ gefunden, der die Pässe gefälscht hat.«
    »Aber sie hat wichtige Informationen zurückgehalten«, sagte Lynne. »Ich habe nicht geglaubt, dass sie Zugeständnisse machen würden.«
    Farnham zuckte die Schultern. »Sagen wir mal, es ist zur Zeit politisch angesagt, Menschlichkeit walten zu lassen.« Er meinte damit die Reaktion auf rassistische Übergriffe gegen Asylsuchende aus Afghanistan. »Pearses Rechtsanwalt wird auf Prozessunfähigkeit plädieren. Wahrscheinlich wird er es durchkriegen. Und mit der Aufklärung von Holbrooks Tod sind wir keinen Schritt weiter. Keine Spuren. Einer von den beiden muss es getan haben, und ich wette, es war Lewis, aber es ihm zu beweisen …« Er sah entmutigt aus.
    Lynne neigte dazu, Pearse zu glauben, der diesen Mord abstritt. Er hatte die anderen Morde ohne Zögern zugegeben, und Holbrooks Mord passte einfach nicht in sein Schema von Tod und Erlösung. Lewis schien ehrlich schockiert, als er von Holbrooks Tod erfuhr, und hatte um eine Unterbrechung des Verhörs gebeten. Er wurde in die Untersuchungshaft zurückgeschickt und hatte nach diesem Tag gebeten, dass man ihn von den anderen Gefangenen isolieren möge. »Nachdem ich von Ihnen hier wie ein Vergewaltiger behandelt werde«, sagte er, »werden mir die anderen vielleicht etwas antun.«
    Farnham war Lynne gegenüber diesmal untypisch zögerlich. »Ich weiß …«, sagte er. Dann hielt er inne und setzte neu an. »Willst du heute Abend etwas trinken gehen? Oder sonst irgendwann einmal?«
    Lynne traute Farnham nicht. Er hatte sie in beruflicher Hinsicht ausgenutzt, hatte sich im Privatleben mit ihr eingelassen und die beiden Bereiche völlig getrennt gehalten. Es war eine zwiespältige Sache. Es war klar, dass der Beruf für ihn das Wichtigere war. Genau wie für sie. Es war schwierig, eigentlich unmöglich. Sie hatte kein Vertrauen zu ihm. Aber der Sex war erstaunlich gut gewesen.
    »Ich kann die Pubs in der Stadt nicht ausstehen«, sagte sie. »Du schuldest mir ein schönes Essen.«
    »Gut«, erwiderte er lächelnd. »Gleich bei mir um die Ecke ist ein ganz nettes Lokal. Ich hol dich ab – um acht?«
    »Okay«, sagte sie und begegnete seinem Blick. »Aber diesmal wird auf keinen Fall gefachsimpelt.«
    Hull, März
    Anna saß regungslos da und schwieg. Alles war vorbei, die Schmerzen in den Händen und den steifen Gliedern, die Erkältung, das Schwindelgefühl und das Fieber. Und sie konnte wieder schlafen. Oder wenn sie nicht richtig schlafen konnte, so wachte sie doch wenigstens nicht ganz auf und nahm im Dämmerzustand Dinge ihrer Umgebung wahr – einen Stuhl, ein Bett, Schritte und Stimmen –, Dinge, die ihr keine Sorgen mehr bereiteten. Sie ging im Wald spazieren. Die Bäume leuchteten goldgelb in der Spätsommersonne. Anna kannte diesen Wald gut, die Wege durch die weiten Lichtungen, den Ort, wo der Bach
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