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Nachtengel

Titel: Nachtengel
Autoren: Danuta Reah
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über die Felsen plätscherte und im gebrochenen Licht die Wassertropfen in den Regenbogenfarben glänzten, die Wege, die sie oft mit ihrem Vater gegangen war und wohin sie Krischa mitgenommen hatte, damit sie unter den Bäumen spielen konnte.
    Es gab Wege im Wald, die sie zu vermeiden lernte, über denen der Geruch nach Verbranntem hing, und Wasser, das in der Stille tropfte. Manchmal hörte sie Stimmen, wieder und immer wieder. Anna? Anna? Du musst mir sagen …
    Ms . Krleza, es ist nicht gut, wenn Sie … Ms . Krleza …? Immer wieder.
    Aber Anna hatte einen sicheren Ort gefunden, den einzigen sicheren Ort, von dem sie niemand vertreiben konnte. Sie würde nicht zurückkommen.

23
    Shetland -Inseln, September
    Es war eine lange Reise, aber Lynne hatte zehn Tage Zeit und ging es gemächlich an. Der Fall war effektiv abgeschlossen. Matthew Pearses Gesuch, ihn als unzurechnungsfähig anzuerkennen, war vom Generalstaatsanwalt stattgegeben worden. Sean Lewis war tot. Er hatte sich in seiner Zelle erhängt. Niemals hatte er auch nur angedeutet, dass er sich umbringen wollte, und auch keinen Abschiedsbrief hinterlassen, aber die Umstände schienen eindeutig. Man hatte ihn eines Morgens gefunden, er hing an seinem Bettgestell. Die Zellentür war abgeschlossen gewesen. Lynne war genauso frustriert wie Farnham, weil einiges ungeklärt blieb, aber das gerichtsmedizinische Ergebnis war eindeutig.
    Lynne nahm den Zug nach Aberdeen und die Nachtfähre nach Lerwick. Am Morgen war sie auf den Shetland-Inseln und fuhr nordwärts nach Toft, um die Fähre nach Yell zu erreichen. Yell war trostlos, in der Mitte ödes Moorland und die Küste felsig und karg. Sie fuhr weiter gen Norden nach Gutcher. Dort nahm sie die Fähre nach Unst, ihrem Reiseziel. Sie sah auf das Paket auf dem Sitz neben sich.
    Es war sperrig, ein großes Plastikgefäß – der Bestattungsunternehmer hatte es Urne genannt – in einer Einkaufstüte. Sie war dunkelgrün mit einem schwarzen Schraubdeckel, ein zweckmäßiger Behälter für Asche aus einem Krematoriumsofen. Oksanas Familie war arm, und ihre Eltern waren tot. Sie hatte nur entfernte Verwandte. Sie war perfekt gewesen, wie Sean Lewis es genannt hatte. Ihre Asche sollte da verstreut werden, wo sie gestorben war.
    Lynne hatte es auf sich genommen, diesen Wunsch zu erfüllen. Oksana war in einem unterirdischen Grab gestorben. Sie hätte sich bestimmt nicht gewünscht, dass ihre Asche in Matthew Pearses ›Kirche‹ verstreut und mit dem Staub und der Feuchtigkeit dort vermischt worden wäre, bis die Abrisstruppe kam. Ihre Leiche war in der Humber-Mündung gefunden worden, deren verschmutztes Wasser auch nur ein trauriger Ruheplatz gewesen wäre. Aber die Nordsee war etwas anderes. Lynne hatte sich die Landkarte angesehen. Wenn sie an den nördlichsten Punkt der Shetland-Inseln auf Unst fuhr, konnte sie Oksanas Asche dort verstreuen. Sie hatte sich ein Bild vom Meer jenseits der Shetland-Inseln und weiter im Norden gemacht. Im Osten war die Barentssee und noch weiter östlich die Karasee. Sie hatte die wohl etwas romantische Vorstellung, dass Oksanas Asche auf den Meereswogen bis zu dem Punkt getragen würde, wo der Jenissei in die eisige Leere der Karasee mündet, wo Oksanas irdische Reise enden würde.
    Sie bog von der großen Straße ab und folgte der kleineren Landstraße zum breiten Voe of Burrafirth. Sie stellte das Auto ab und hob die schwere Tüte heraus. Von hier ab würde sie zu Fuß gehen müssen. Vor sich sah sie die Klippen und dahinter das Meer. Die weite Landschaft lag verlassen vor ihr, und trotz des blauen, wolkenlosen Himmels war die Luft kalt. Am Weg vor ihr stand ein kleines, niedriges Steingebäude, das von einer Trockensteinmauer umgeben war. Sie fragte sich, ob es ein Schuppen, der Überrest eines kleinen Bauernhofs, oder vielleicht die Hütte eines Aufsehers im Naturschutzgebiet von Herma Ness war. Es sah so klein und düster aus, dass es unbewohnt wirkte. Als sie näher kam, sah sie, dass jemand in der Tür stand und sie beobachtete.
    Es war eine Frau. Ihrer Kleidung und Haltung nach eine alte Frau. Ihr Kopf war mit einem schweren schwarzen Schal bedeckt, das Gesicht braun und wettergegerbt, und die dunklen Augen beobachteten Lynne gelassen. Sie wollte gerade grüßen, als ein Hund an der Frau vorbei aus der Tür sprang, bellte, die Ohren anlegte und die Zähne bleckte. Lynne betrachtete den Hund. Er war groß und schwarz, von unbestimmter Rasse, stand am Tor Wache und wollte
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