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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern
Autoren: Ken Follett
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noch mehr erboste. »Du willst nur alles zerstören, was edel und rein ist, und dich darüber lustig machen!« erklärte sie verbittert.
    Solche dummen Reden überhörte man am besten, aber Margaret wollte doch wenigstens ihren Standpunkt klarmachen. Sie wandte sich ihrem Vater zu und sagte: »Was Neville Chamberlain betrifft, bin ich jedenfalls deiner Meinung. Dadurch, daß er zugelassen hat, daß die Faschisten Spanien übernahmen, hat er unsere militärische Lage ungemein verschlechtert. Jetzt ist der Feind ebenso im Westen wie im Osten.«
    »Chamberlain hat nichts damit zu tun, daß die Faschisten in Spanien an die Macht gekommen sind«, erklärte ihr Vater. »Großbritannien hatte einen Nichteinmischungspakt mit Deutschland, Italien und Frankreich. Wir haben lediglich unser Wort gehalten.«
    Das war absolute Heuchelei, und er wußte es. Margaret spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. »Wir haben unser Wort gehalten, während die Italiener und die Deutschen ihres brachen!« rief sie entrüstet. »Also bekamen die Faschisten die Waffen, und die Demokraten nichts – außer Helden.«
    Einen Augenblick herrschte verlegenes Schweigen.
    Schließlich sagte die Mutter: »Es tut mir wirklich leid, daß Ian gefallen ist, Liebes, aber er hatte einen sehr schlechten Einfluß auf dich.«
    Plötzlich war Margaret den Tränen nahe.
    Ian Rochdale war ihre große Liebe gewesen, und der Schmerz über seinen Tod überwältigte sie immer noch.
    Jahrelang hatte sie bei den Jagdbällen mit hohlköpfigen jungen Männern des Landadels getanzt, die nichts anderes im Sinn hatten, als zu saufen und zu jagen. Sie hatte schon daran gezweifelt, daß sie je einen Mann ihres Alters kennenlernen würde, der sie interessierte. Ian war wie das Licht der Aufklärung in ihr Leben gekommen, und seit er tot war, lebte sie wieder in der Dunkelheit.
    Als sie ihn kennenlernte, studierte er im letzten Semester in Oxford. Margaret wäre schrecklich gern auch auf eine Universität gegangen, aber sie hätte wohl kaum eine Chance gehabt, aufgenommen zu werden – sie hatte ja nie eine richtige Schule besucht. Doch sie war sehr belesen – was hätte sie außer Lesen auch tun können! –, und sie war begeistert, einen Wesensverwandten gefunden zu haben, jemanden, der leidenschaftlich gern diskutierte. Ian war der einzige, der ihr etwas erklären konnte, ohne dabei herablassend zu wirken. Nie war sie jemandem begegnet, der so klar denken konnte; bei Diskussionen bewies er unendliche Geduld; und er war ohne jede intellektuelle Eitelkeit – nie gab er vor, etwas zu verstehen, wenn es nicht der Fall war. Sie bewunderte ihn vom ersten Augenblick an.
    Lange Zeit dachte sie gar nicht daran, daß es Liebe sein könnte. Doch eines Tages gestand er ihr seine Gefühle; unbeholfen, voll Verlegenheit suchte er nach den richtigen Worten und hatte zum ersten Mal Schwierigkeiten, sich auszudrücken, bis er schließlich sagte: »Ich glaube, ich habe mich wohl in dich verliebt – wird das alles zwischen uns zerstören?« Und da wurde ihr voller Glück bewußt, daß auch sie ihn liebte.
    Er veränderte ihr Leben. Ihr war, als wäre sie plötzlich in einem anderen Land. Sie sah alles mit anderen Augen: die Landschaft, das Wetter, die Leute, das Essen. Und sie genoß alles. Die Zwänge und der Ärger, die ein Leben mit ihren Eltern mit sich brachte, erschienen ihr unbedeutend.
    Selbst nachdem Ian sich der Internationalen Brigade angeschlossen hatte und in Spanien für die gewählte sozialistische Regierung und gegen die faschistischen Aufrührer kämpfte, erhellte er ihr Leben. Sie war stolz auf ihn, weil er den Mut hatte, zu seiner Überzeugung zu stehen und bereit war, sein Leben für die Sache einzusetzen, an die er glaubte. Manchmal erhielt sie einen Brief von ihm. Einmal schickte er ihr ein Gedicht. Und dann kam die Mitteilung, daß er gefallen war, daß eine Granate ihn getroffen hatte. Und Margaret hatte das Gefühl, mit ihm gestorben zu sein.
    »Einen schlechten Einfluß«, wiederholte sie bitter. »Ja, er lehrte mich, Dogmen in Frage zu stellen, Lügen nicht zu glauben, Ignoranz zu hassen und Heuchelei zu verabscheuen. Infolgedessen passe ich kaum in diese zivilisierte Gesellschaft hier.«
    Plötzlich redeten alle gleichzeitig, dann hörten sie ebenso abrupt auf, weil keiner verstanden werden konnte. Da sagte Percy in die Stille: »Weil wir von Juden reden: Ich habe ein komisches Bild im Keller gefunden, in einem dieser alten Koffer aus Stamford.« Stam- ford in
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