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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern
Autoren: Ken Follett
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außerdem war es ohnedies ein falscher Alarm. Jedenfalls schritt die Familie Ckenford von der Kirche nach Hause, ohne zu ahnen, daß sie sich bereits im Krieg mit Deutschland befanden.
    Percy wollte eine Flinte holen und auf Hasenjagd gehen. Sie konnten alle schießen, das war ein Familienzeitvertreib, ja schon fast eine Besessenheit. Aber natürlich gestattete Vater es Percy nicht, denn an einem Sonntag durfte nicht herumgeballert werden. Percy war enttäuscht, aber er fügte sich. Obwohl er ständig Unfug im Sinn hatte, war er noch nicht Manns genug, sich seinem Vater offen zu widersetzen.
    Margaret liebte Percys Unbekümmertheit. Er war der einzige
    Sonnenstrahl in der Düsternis ihres Lebens. Wie oft wünschte sie sich, sie könnte Vater verspotten, wie Percy es tat, und hinter seinem Rücken über ihn lachen, aber dazu ärgerte sie sich zu sehr.
    Als sie heimkamen, trafen sie auf das neue Hausmädchen, das am Eingang Blumen goß. Seltsamerweise ging sie barfuß. Vater, der das Mädchen noch nicht kannte, runzelte die Stirn. »Wer sind Sie?« fragte er scharf.
    Mutter sagte mit ihrer sanften Stimme und ihrem amerikanischen Akzent: »Sie heißt Jenkins und hat erst diese Woche hier zu arbeiten angefangen.«
    Das Mädchen machte einen Knicks.
    »Wo zum Teufel sind ihre Schuhe?« wandte Vater sich an Mutter.
    Das Mädchen blickte verwirrt auf. Dann warf sie einen anklagenden Blick auf Percy. »Verzeihen Sie, Ihre Lordschaft, aber der junge Lord Isley sagte, daß Hausmädchen am Sonntag als Zeichen der Ehrerbietung barfuß laufen müssen.« Percys Titel war Earl von Isley.
    Mutter seufzte, und Vater brummte verärgert. Diesmal konnte Margaret ein Kichern nicht unterdrücken. Percy hatte ein diebisches Vergnügen daran, neue Dienstboten mit erfundenen Hausregeln vertraut zu machen. Er konnte die verrücktesten Dinge mit glaubwürdiger Miene sagen, und da die Familie für ihre Exzentrizität bekannt war, trauten ihnen die Leute so gut wie alles zu.
    Percy brachte Margaret oft zum Lachen, aber jetzt tat ihr das arme Hausmädchen leid, das barfuß dastand und sich sichtlich sehr dumm vorkam.
    »Ziehen Sie Ihre Schuhe an«, sagte Mutter.
    »Und glauben Sie Lord Isley nichts mehr«, fügte Margaret hinzu.
    Sie legten ihre Hüte ab und traten in den kleinen Salon. Margaret zog Percy an den Haaren und zischte: »Das war gemein von dir!« Ihr Bruder grinste nur, er war unverbesserlich. Einmal hatte er dem Vikar weisgemacht, daß Vater in der Nacht an einem Herzanfall gestorben war. Der ganze Ort trauerte, bis sich herausstellte, daß es gar nicht stimmte.
    Vater schaltete den Rundfunkempfänger ein, und da hörten sie, daß Großbritannien Deutschland den Krieg erklärt hatte.
    Margaret spürte, wie sich wilde Freude in ihr regte, die jener Erregung ähnlich war, die sie empfand, wenn sie mit hoher Geschwindigkeit fuhr oder bis zum Wipfel eines hohen Baumes hinaufkletterte. Es hatte nun keinen Sinn mehr, deshalb quälenden Überlegungen nachzuhängen. Natürlich würde es zu Tragödien kommen, zu Verlust und Trauer und Leid. Doch daran war jetzt nichts mehr zu ändern, die Würfel waren gefallen, und es mußte gekämpft werden. Bei diesen Gedanken schlug ihr Herz schneller. Alles würde anders werden. Gesellschaftliche Konventionen würden aufgegeben werden müssen. Frauen würden zum Hilfsdienst aufgerufen werden, Klassenschranken würden fallen, alle würden zusammenarbeiten. Schon jetzt konnte sie einen Hauch von Freiheit spüren. Und sie würden im Krieg mit den Faschisten sein, die den armen Ian auf dem Gewissen hatten und Tausende andere junge Männer wie ihn. Margaret hielt sich nicht für besonders rachsüchtig, aber wenn sie an den Kampf gegen die Nazis dachte, verspürte sie doch den Wunsch nach Vergeltung. Und dieses Gefühl war neu für sie, erschreckend und aufregend zugleich.
    Vater tobte vor Wut. Er war ohnehin dick und hatte ein rotes Gesicht, aber wenn er zornig wurde, sah er immer aus, als würde er platzen. »Verdammter Chamberlain!« knirschte er. »Verfluchter Kerl!«
    »Algernon, bitte!« rügte ihn Mutter ob seiner Unbeherrschtheit.
    Vater war einer der Gründer der B.U.F. – der Britischen Union der Faschisten. Damals war er ein anderer Mensch gewesen, nicht nur jünger, sondern auch schlanker, besser aussehend und weniger reizbar. Er hatte mit seinem Charme die Sympathie und Loyalität vieler gewonnen. Er hatte ein umstrittenes Buch geschrieben: Mischlinge – Die Gefahr durch Rassenvermischung. Es
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