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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern
Autoren: Ken Follett
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Oxenfords den Mittelgang entlang zu ihrer angestammten Bank schritten. Die wohlhabenderen Farmer, die alle ihr Land von Vater gepachtet hatten, verneigten sich höflich; und die Angehörigen der mittleren Klasse, wie Dr. Rowan und Colonel Smythe und Sir Alfred, nickten ergeben. Margaret wand sich innerlich jedesmal vor Verlegenheit bei diesem lächerlichen, feudalen Ritual. Sollten vor Gott denn nicht alle gleich sein? Am liebsten hätte sie laut gerufen: »Mein Vater ist nicht besser als jeder von euch und schlimmer als die meisten!« Vielleicht würde sie eines Tages den Mut dazu aufbringen. Falls sie eine Szene in der Kirche machte, brauchte sie sie vielleicht nie wieder zu besuchen. Aber dazu hatte sie zuviel Angst vor ihrem Vater.
    Als sie zu ihrer Bank kamen und aller Augen auf ihnen ruhten, murmelte Percy mit voller Absicht gerade laut genug, daß alle es hören konnten: »Hübsche Krawatte, Vater.« Margaret unterdrückte ein Kichern. Sie und Percy setzten sich rasch und verbargen scheinbar betend das Gesicht, bis der unbändige Drang zu lachen verging. Danach fühlte Margaret sich besser.
    Der Vikar hielt seine Predigt über den verlorenen Sohn. Margaret dachte, daß der alte Trottel ruhig ein aktuelleres Thema hätte wählen können, das wohl allen im Kopf herumging: die Gefahr, daß der Krieg ausbrach. Der Premierminister hatte Hitler ein Ultimatum gestellt, der Führer hatte es einfach ignoriert, und so wurde jeden Augenblick mit der Kriegserklärung gerechnet.
    Margaret fürchtete den Krieg. Ein Junge, den sie geliebt hatte, war im spanischen Bürgerkrieg gefallen. Es war inzwischen über ein Jahr her, aber sie weinte manchmal nachts im Bett immer noch. Für sie bedeutete Krieg, daß es Tausenden von Mädchen ebenso ergeben würde wie ihr. Der Gedanke war unerträglich.
    Und doch wollte ein anderer Teil ihres Ichs den Krieg. Jahrelang hatte sie Großbritanniens Feigheit während des spanischen Bürgerkrieges gewurmt. Ihr Vaterland hatte untätig zugesehen, während eine von Hitler und Mussolini mit Waffen versorgte Bande von Machthungrigen die gewählte sozialistische Regierung stürzte. Hunderte von idealistischen jungen Männern aus ganz Europa waren nach Spanien geeilt, um für Demokratie zu kämpfen. Doch es fehlte ihnen an den nötigen Waffen, und die demokratischen Regierungen der Welt hatten sich geweigert, sie damit zu versorgen. Auf diese Weise hatten viele der jungen Männer ihr Leben verloren, und Menschen wie Margaret hatten Wut, Hilflosigkeit und Scham empfunden. Wenn Großbritannien sich nun entschlossen gegen die Faschisten stellte, könnte sie wieder stolz auf ihr Vaterland sein.
    Es gab noch einen Grund, weshalb ihr Herz bei der Aussicht auf den Krieg höher schlug. Ganz gewiß würde er das Ende dieses eingeengten Lebens bei ihren Eltern bedeuten, das ihr die Luft abschnürte. Die immer gleichen Rituale der Familie, das sinnlose gesellschaftliche Leben langweilte, lähmte und frustrierte sie. Sie sehnte sich danach, fortzukommen, ihr eigenes Leben zu führen, aber das schien unmöglich: Sie war noch nicht volljährig, hatte kein eigenes Geld, und es gab offenbar keine Arbeit, für die sie geeignet war. Aber, dachte sie erregt, im Krieg würde ganz bestimmt alles anders werden.
    Voll Faszination hatte sie gelesen, wie im letzten Krieg Frauen in Hosen geschlüpft waren und in Fabriken gearbeitet hatten. Und heutzutage hatten Armee, Marine und Luftstreitkräfte sogar eigene Abteilungen für Frauen. Margaret träumte davon, sich freiwillig zum Auxiliary Territorial Service zu melden, der »Frauenarmee«. Zu ihren paar praktischen Fähigkeiten gehörte das Autofahren. Vaters Chauffeur, Digby, hatte es ihr mit dem Rolls beigebracht, und Ian, der Junge, der im Krieg gefallen war, hatte sie mit seinem Motorrad fahren lassen. Sie kam sogar mit einem Motorboot gut zurecht, denn Vater hatte in Nizza eine kleine Jacht. Der A.T.S. brauchte Krankenwagenfahrerinnen und Meldegängerinnen, die Motorrad fahren konnten. Sie sah sich schon in Uniform und Helm, mit einem Bild von Ian in der Brusttasche ihres Khakihemds, auf einem Krad dringende Meldungen von einem Schlachtfeld zum nächsten bringen. Sie war überzeugt, daß sie den Mut hatte, wenn man ihr die Chance gab.
    Tatsächlich wurde, noch während sie in der Kirche saßen, der Krieg erklärt, wie sie später erfuhren. Zwei Minuten vor halb zwölf – mitten im Gottesdienst – gab es sogar Fliegeralarm, aber das Dorf bekam davon nichts mit,
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