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Nachschrift zum Namen der Rose

Nachschrift zum Namen der Rose

Titel: Nachschrift zum Namen der Rose
Autoren: Umberto Eco
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zurückverwandelt oder
    auch, sagen wir, Gürteltiere).
    Zu meiner Welt gehörte auch die Realgeschichte, und darum
    studierte ich so viele Chroniken der Epoche; und während ich
    sie studierte, wurde mir klar, daß in meinen Roman auch Dinge
    eingehen mußten, an die ich anfangs nicht einmal im Traum
    gedacht hätte, wie der Armutsstreit oder die Verfolgung der
    Fratizellen.
    Ein Beispiel: Wie sind die Fratizellen des 14. Jahrhunderts in
    mein Buch gekommen? Eigentlich hätte ich, wenn ich nun
    schon eine mittelalterliche Geschichte erzählen sollte, sie lieber
    im 13. oder 12. Jahrhundert angesiedelt, wo ich viel besser zu
    Hause war. Aber ich brauchte einen Detektiv, nach Möglichkeit
    einen Engländer (intertextuelles Zitat), der eine gute Beobach-
    tungsgabe und einen ausgeprägten Sinn für die Interpretation
    von Indizien haben mußte. Und diese Eigenschaften fanden
    sich, wenn überhaupt, nur im Umkreis der Franziskaner nach
    Roger Bacon; außerdem gab es eine entwickelte Zeichentheorie
    erst bei den Ockhamisten, beziehungsweise es gab sie auch
    vorher schon, aber vor Ockham wurden die Zeichen entweder
    symbolisch gedeutet, oder man sah in ihnen vorwiegend die
    Ideen und Universalien. Erst zwischen Bacon und Ockham
    wurden die Zeichen als Mittel zur Erkenntnis der Individuen
    benutzt. Folglich mußte ich meine Geschichte ins 14. Jahr-
    hundert verlegen, zu meiner großen Irritation, weil ich mich
    dort viel schlechter auskannte. Also erneute Studien - und die
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    Entdeckung, daß ein Franziskaner im 14. Jahrhundert, auch ein
    englischer, unmöglich den Armutsstreit ignorieren konnte, zumal
    wenn er ein Freund oder Anhänger oder Kenner Ockhams war
    (nebenbei: ursprünglich sollte Ockham selber mein Detektiv sein,
    aber dann habe ich darauf verzichtet, denn als Mensch ist mir der
    Inceptor Venerabilis nicht besonders sympathisch).
    Warum spielt nun das Ganze ausgerechnet Ende November
    1327? Weil im Dezember Michael von Cesena bereits in Avignon
    ist (und dies eben heißt in einem historischen Roman eine Welt ausstaffieren: einige Elemente, wie die Anzahl der Stufen, beru-hen auf einer Entscheidung des Autors; andere, wie die Bewe-
    gungen Michaels von Cesena, sind abhängig von der wirklichen
    Welt, die in dieser Art von Romanen zufällig mit der möglichen
    Welt der Erzählung koinzidiert).
    November war aber eigentlich noch zu früh. Denn ich mußte
    ja auch ein Schwein schlachten. Warum? Ganz einfach: um eine
    Leiche kopfüber in einen Schweineblutbottich stürzen zu können.
    Und warum das? Weil die zweite Posaune der Apokalypse
    verkündet... Und die Apokalypse konnte ich schließlich nicht
    ändern, sie gehörte zu meiner Welt. Nun trifft es sich aber (ich
    habe mich informiert), daß Schweine erst bei Kälte geschlachtet
    werden, und dafür konnte November noch zu früh sein, jedenfalls
    in Italien. Es sei denn, ich versetzte meine Abtei in die Berge, um
    so bereits ersten Schnee zu haben... Andernfalls hätte
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    sich meine Geschichte durchaus in der Ebene abspielen können,
    in Pomposa oder in Conques.
    Wie es dann weitergeht, sagt uns die einmal geschaffene
    Welt. Alle fragen mich immer, warum mein Jorge in seinem
    Namen an Borges erinnert und warum denn Borges so böse ist.
    Ich weiß es nicht. Ich wollte einen Blinden als Hüter der Biblio-
    thek (das hielt ich für eine gute erzählerische Idee), und Biblio-
    thek plus Blinder ergibt eben zwangsläufig Borges, auch weil
    die Schulden bezahlt werden müssen. Außerdem waren es spa-
    nische Kommentare und Miniaturen, durch welche die Apoka-
    lypse das ganze Mittelalter beeinflußt hatte. Doch als ich Jorge
    in die Bibliothek setzte, wußte ich noch nicht, daß er der
    Mörder war. Er hat das Ganze sozusagen auf eigene Faust
    getan. Und man halte das nicht für einen »Idealismus« wie die
    Behauptung, Romanpersonen hätten ein Eigenleben und der
    Autor lasse sich, wie in Trance, ihr Handeln von ihnen
    einge.ben. Dummheiten für Abituraufsatzthemen. Nein, die
    Personen sind gezwungen, nach den Gesetzen der Welt zu
    handeln, in der sie leben. Anders gesagt, der Erzähler ist der
    Gefangene seiner eigenen Prämissen.
    Eine andere schöne Geschichte war auch die Sache mit dem
    Labyrinth. Sämtliche Labyrinthe, die ich kannte (und ich hatte
    die schöne Untersuchung von Santarcangeli durchgesehen),
    waren Labyrinthe im Freien. Sie konnten sehr kompliziert sein,
    voller verschlungener Windungen. Aber ich brauchte ein
    ge.schlossenes Labyrinth (hat man
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