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Nachschrift zum Namen der Rose

Nachschrift zum Namen der Rose

Titel: Nachschrift zum Namen der Rose
Autoren: Umberto Eco
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der Lektüre des Buches sagte mir
    eine Freundin: »Mein einziger Einwand ist, daß William nie eine
    Regung von Mitleid zeigt.« Ich erzählte das einem anderen
    Freund, der mir antwortete: »Sie hat recht, das ist der Stil seiner
    pietas.« So mag es gewesen sein. Und so sei es.
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    Die Paralipse
    Adson verhalf mir auch zur Lösung eines anderen Problems.
    Ich hätte die ganze Geschichte in einem Mittelalter ansiedeln
    können, in welchem alle Beteiligten immer wußten, wovon die
    Rede war. Wie in einer Geschichte von heute: Wenn in einer
    Geschichte von heute jemand sagt, daß der Vatikan seine
    Scheidung nicht billigen würde, braucht er nicht groß zu
    erklären, was der Vatikan ist und warum er die Scheidung nicht
    billigt. In einem historischen Roman, also einer Geschichte aus
    ferner Vergangenheit, kann man so nicht verfahren, denn man
    erzählt sie ja auch, um uns Heutigen besser begreiflich zu
    machen, was damals geschehen ist und inwiefern das damals
    Geschehene uns noch heute betrifft.
    Die Gefahr ist dabei der »Salgarismus«10: Salgaris Personen
    fliehen, gehetzt von Feinden, in einen tropischen Urwald,
    stolpern über eine Baobabwurzel - und schon suspendiert der
    Autor die Handlung, um uns einen Vortrag über Affenbrotbäume
    zu halten. Heute ist diese Methode zum Stereotyp geworden,
    liebenswert wie die Schwächen derer, die wir sehr lieben, aber
    kaum nachahmenswert.
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    Ich habe Hunderte von Seiten umgeschrieben, um dieser
    Gefahr zu entgehen, aber ich kann mich nicht entsinnen, mir
    jemals beim Schreiben bewußt geworden zu sein, wie ich das
    Problem im Einzelfall löste. Erst zwei Jahre später bin ich
    darauf gekommen, und zwar genau als ich mir zu erklären
    versuchte, warum das Buch auch von Leuten gelesen wird, die
    eigentlich derart »anspruchsvolle« Bücher kaum mögen
    können. Adsons Erzählstil beruht unter anderem auf jener
    Denkfigur, die in der Rhetorik Paralipse oder Präterition
    (»Auslassung«) genannt wird. Illustres Beispiel: »Ich schweige
    davon, daß Cäsar an allen Gestaden ...«11 Man sagt, man wolle
    von etwas nicht weiter sprechen, und tut es dann doch
    (wodurch es sich um so besser einprägt). Dies ungefähr ist
    Adsons Methode, wenn er auf Personen oder Ereignisse
    anspielt, als ob sie dem Leser bestens bekannt wären, und sie
    dennoch erklärt. Anderes, was seinem Leser (als einem Deut-
    schen am Ende des 14. Jahrhunderts) nicht so bekannt sein
    konnte, weil es zu Anfang des Jahrhunderts in Italien geschehen
    ist, erklärt er dagegen ungehemmt, und zwar in belehrendem
    Ton, denn dies war der Stil des mittelalterlichen Chronisten, der
    enzyklopädische Kenntnisse einbringen wollte, wann immer er
    etwas benannte. Nach der Lektüre des Buches sagte mir eine
    Freundin (nicht dieselbe wie oben), sie hätte sich über den
    »journalistischen« Ton der Erzählung gewundert, der weniger
    einem Roman entspreche als einer Reportage, einem Espresso-
    Artikel.12 Ich war zunächst betroffen, dann ging mir allmählich
    auf, was sie erfaßt
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    hatte, ohne es zu begreifen: So nämlich erzählten die Chronisten
    jener Epoche, und daß wir heute bei Reportagen noch gern von
    Chroniken sprechen13, liegt daran, daß man damals so viele
    Chroniken schrieb.

    6 »Auf dem Tisch neben dem glimmenden Fäßchen lag aufgeschlagen
    ein großes farbig bemaltes Buch. Ich trat näher und entdeckte vier
    Streifen von verschiedener Farbe: gelb, zinnober, türkis und hellbraun.
    Darauf ein schrecklich anzusehendes Untier, ein Drache mit zehn
    Köpfen, der mit dem Schweif die Sterne am Himmel erfaßte und
    niederwarf auf die Erde. Und plötzlich vervielfachte sich der Drache...«
    (Adson von Melk in Der Name der Rose, S. 221)
    Der Atem
    Die langen erläuternden Einschübe hatten indessen noch
    einen anderen Grund. Nach der Lektüre des Manuskriptes
    meinten die Freunde im Verlag, ich sollte die ersten hundert
    Seiten ein wenig kürzen, sie seien zu anspruchsvoll und
    ermüdend. Ich hatte keinerlei Zweifel, ich lehnte ab mit dem
    Argument: Wer die Abtei betreten und darin sieben Tage
    verbringen will, muß ihren Rhythmus akzeptieren. Wenn ihm
    das nicht gelingt, wird er niemals imstande sein, das Buch bis
    zu Ende zu lesen. Die ersten hundert Seiten haben daher die
    Funktion einer Abbuße oder Initiation, und wer sie nicht mag,
    hat Pech gehabt und bleibt draußen, zu Füßen des Berges.
    Der Eintritt in einen Roman ist wie der Aufbruch zu einer
    Bergtour: Man muß sich an einen Atem gewöhnen, an
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