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Nachschrift zum Namen der Rose

Nachschrift zum Namen der Rose

Titel: Nachschrift zum Namen der Rose
Autoren: Umberto Eco
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Scharen von Leuten, die als Tante Lisbeth,
    Madame Bovary, Wilhelm Meister, Barry Lyndon, Tom Jones
    oder Tonio Kröger andere Literaturen bevölkern.
    Die Idee zu dem Titel Der Name der Rose kam mir wie
    zufällig und gefiel mir, denn die Rose ist eine Symbolfigur von
    so vielfältiger Bedeutung, daß sie fast keine mehr hat: rosa
    mystica, Krieg der Rosen, Roman de la Rose, die Rosenkreuzer,
    die Anmut der herrlichen Rosen, und Rose lebte das Rosen-
    leben, la vie en rrrose, eine Rose ist eine Rose ist eine Rose,
    Röslein, Röslein, Röslein rot... Der Leser wird regelrecht
    irregeleitet, in alle möglichen Richtungen (also in keine)
    gewiesen, er kann dem Titel keine bestimmte Deutung
    entnehmen, und selbst wenn er die im lateinischen Schlußsatz
    angelegten nominalistischen Lesarten voll erfaßt, kommt er
    doch eben erst ganz am Ende darauf, nachdem er bereits wer
    weiß wie oft eine andere Wahl getroffen hat. Ein Titel soll die
    Ideen verwirren, nicht ordnen.
    Nichts ist erfreulicher für den Autor eines Romans, als
    Lesarten zu entdecken, an die er selbst nicht gedacht hatte und
    die ihm von Lesern nahegelegt werden. Als ich theoretische
    Werke schrieb, war meine Haltung gegenüber den Rezensenten
    die eines Richters: Ich prüfte, ob sie mich verstanden hatten,
    und beurteilte sie danach. Mit einem Roman ist das ganz anders.
    Nicht daß man als Romanautor keine Lesarten finden könnte,
    die
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    einem abwegig erscheinen, aber man muß in jedem Fall
    schweigen und es anderen überlassen, sie anhand des Textes zu
    widerlegen. Die große Mehrheit der Lesarten bringt jedoch
    überraschende Sinnzusammenhänge ans Licht, an die man beim
    Schreiben nicht gedacht hatte. Was heißt das?
    Eine französische Philologin, Mireille Calle Gruber, hat
    subtile Schreibspiele (Paragramme) entdeckt, in denen die
    simplices (im Sinne der einfachen Leute) mit den simplices im Sinne der Heilkräuter assoziiert werden, und nun findet sie, daß
    ich vom »bösen Gewächs« (oder »Unkraut«) der Häresie
    spreche. Ich könnte erwidern, daß der Terminus »simplices« in
    beiden Fällen die Literatur der Epoche durchzieht, desgleichen
    der Ausdruck »böses Gewächs«. Andererseits kannte ich sehr
    wohl das Beispiel von Greimas über die doppelte Isotopie, die
    sich ergibt, wenn man den Kräuterkundigen als einen »Freund
    der simplices« definiert. Wußte ich, daß ich mit Paragrammen
    spielte? Es zählt nicht, was ich im nachhinein sage, der Text ist
    da und produziert seine eigenen Sinnverbindungen.
    Als ich die Rezensionen las, machte es mir besondere
    Freude, wenn ein Kritiker (die ersten waren Ginevra Bompiani
    und Lars Gustafsson) eine knappe Bemerkung hervorhob, die
    William gegen Ende des Inquisitionsprozesses macht (Seite 492
    der deutschen Ausgabe). »Was schreckt Euch am meisten an
    der Reinheit?« fragt Adson, und William antwortet: »Die Eile.«
    Ich mochte diese zwei Zeilen sehr und mag sie noch heute.
    Dann aber wies mich ein Leser darauf hin, daß
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    auf der folgenden Seite Bernard Gui, während er dem Cellerar
    mit der Folter droht, sagt: »Die Gerechtigkeit hat keine Eile, wie
    die Pseudo-Apostel meinten, und Gottes Gerechtigkeit kann sich
    Jahrhunderte Zeit lassen. « Und der Leser stellte mir die
    berechtigte Frage, welche Beziehung ich zwischen der von
    William gefürchteten Eile und dem von Bernard gefeierten Man-
    gel an Eile habe herstellen wollen. Da ging mir auf, daß hier
    etwas Beunruhigendes geschehen war. Der kurze Wortwechsel
    zwischen Adson und William hatte im Manuskript noch gar
    nicht gestanden, ich hatte ihn erst beim Korrigieren der
    Druckfahnen eingefügt: Aus Gründen der rhythmischen
    Harmonie (cpncinnitas) brauchte ich noch einen trennenden
    Takt, bevor ich dem Inquisitor von neuem das Wort erteilte. Und
    während ich William die Eile verabscheuen ließ (aus tiefer
    Überzeugung, weshalb mir seine Antwort so gut gefällt), war
    mir natürlich ganz entfallen, daß wenig später auch Bernard Gui
    von der Eile spricht. Für sich genommen ist Bernards
    Bemerkung nichts als eine Redensart, die man von einem
    Richter erwartet, eine Phrase wie »vor dem Gesetz sind alle
    gleich«. Konfrontiert mit der von William angesprochenen Eile
    bewirkt jedoch die von Bernard angesprochene Eile einen
    hintergründigen Sinn, und der Leser fragt sich mit Recht, ob die
    beiden Personen das gleiche sagen, oder ob der von William
    geäußerte Haß auf die Eile nicht doch etwas anderes ist als der
    von Bernard
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