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Nachschrift zum Namen der Rose

Nachschrift zum Namen der Rose

Titel: Nachschrift zum Namen der Rose
Autoren: Umberto Eco
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eine
    bestimmte Gangart, sonst kommt man bald aus der Puste und
    bleibt zurück. Das gleiche geschieht in der Poesie. Man denke
    nur an die Unerträglichkeit jener Gedichtvorträge von Schau-
    spielern, die, um zu »interpretieren«, das Metrum mißachten,
    mit rezitativen enjambements die Versenden überspringen, als
    ob sie Prosa vortrügen, und den Inhalt wichtiger
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    nehmen als den Rhythmus. Wer ein Gedicht in elfsilbigen Terzi-
    nen vortragen will, muß den singenden Rhythmus annehmen,
    den der Dichter gewollt hat. Lieber Dante aufsagen, als ob es
    Kinderreime von Annodazumal wären, als auf Biegen und
    Brechen hinter dem Sinn herlaufen.
    In Prosaerzählungen wird der Atem nicht den Satzgliedern
    anvertraut, sondern größeren Einheiten, Szenen oder Ereignis-
    sequenzen. Manche Romane atmen wie Gazellen, andere wie
    Wale oder Elefanten. Die Harmonie liegt nicht in der Länge der
    Atemzüge, sondern in ihrem Gleichmaß; auch weil und damit
    dann - wenn der Atem an einem bestimmten Punkt (aber nicht
    zu oft) stockt und ein Abschnitt oder Kapitel endet, bevor ganz
    »ausgeatmet« worden ist - dies eine wichtige Rolle in der
    Ökonomie des Erzählens gewinnen, einen Abbruch oder
    Szenenwechsel markieren kann. So jedenfalls sehen wir es bei
    den Großen: Ein Satz wie »la sventurata rispose« - Punkt und
    Neubeginn — hat nicht den gleichen Rhythmus wie ein »Addio
    monti« 14, aber wenn er kommt, ist es, als würde der schöne
    lombardische Himmel blutrot. Ein großer Roman ist einer, in
    dem der Autor stets weiß, wann er beschleunigen und wann er
    bremsen muß und wie er diese Pedaltritte bei konstantem
    Grundrhythmus zu dosieren hat. Auch in der Musik gibt es
    solche Pedaltritte, man kann die Tempi »raffen« (rubare), doch wer zuviel rafft, wird einer von jenen schlechten Pianisten, die
    meinen, um Chopin zu spielen, genüge ein exzessives Rubato.
    Ich spreche hier nicht davon, wie ich meine Probleme
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    gelöst habe, sondern wie ich sie mir gestellt habe. Und wenn ich
    sagen würde, ich hätte sie mir bewußt gestellt, wäre das eine
    Lüge. Es gibt ein kompositorisches Denken, das auch durch den
    Rhythmus der Finger auf den Tasten der Schreibmaschine
    denkt.
    Ein Beispiel mag zeigen, wie das Erzählen ein Denken mit
    den Fingern sein kann. Es ist klar, daß die Szene mit Adsons
    Liebeserlebnis in der nächtlichen Küche aus lauter religiösen
    Zitaten zusammenmontiert ist, vom Lied der Lieder bis zu
    Bernhard von Clairvaux, Jean de Fecamp und Hildegard von
    Bingen. Auch wer keine Erfahrung mit hochmittelalterlicher
    Mystik hat, aber ein bißchen Ohr, wird das gemerkt haben.
    Doch wenn ich heute gefragt werde, von wem die Zitate im
    einzelnen sind und wo das eine aufhört und das andere beginnt,
    kann ich es nicht mehr sagen.
    Ich hatte mir nämlich Dutzende von Zetteln mit Auszügen
    aus allen möglichen Texten, mehrere Bücher und einen Haufen
    Fotokopien bereitgelegt, viel mehr, als ich dann wirklich
    benutzte. Aber als ich ans Schreiben ging, schrieb ich die Szene
    in einem Zug nieder (erst später habe ich sie gefeilt und gleich-
    sam mit einer Glasur überzogen, um die Nahtstellen noch etwas
    besser zu tarnen). Und während ich schrieb, die Texte kunter-
    bunt um mich her, fuhr ich mit den Augen ständig von einem
    zum anderen, holte mir da ein Zitat und dort ein Zitat und
    verschweißte jedes sofort mit dem nächsten. Kein anderes
    Kapitel des Buches habe ich in der ersten Fassung so rasch
    heruntergeschrieben wie dieses. Später begriff ich, daß ich
    versucht hat-
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    te, mit den Fingern dem Rhythmus des Liebesaktes zu folgen,
    weshalb ich nicht anhalten konnte, um mir das »richtige« Zitat
    herauszusuchen. Was ein Zitat an einer gegebenen Stelle richtig
    machte, war der Rhythmus, in dem ich es einmontierte, ich
    schied mit den Augen aus, was den Rhythmus der Finger gestört
    hätte... .Es wäre zuviel gesagt, wenn ich behaupten würde, daß
    die Niederschrift des Geschehens nicht länger gedauert hatte als
    das Geschehen selbst (obwohl es ja Liebesakte von beträcht-
    licher Dauer gibt), aber ich war bestrebt; die Differenz zwischen
    der Dauer des Aktes und der des Schreibens so weit wie
    möglich zu verringern. Und ich meine hier nicht das Schreiben
    im Barthesschen Sinne der écriture, sondern im praktischen
    Sinne dessen, der tippt, ich spreche vom Schreiben als einem
    materiellen, physischen Akt. Und ich spreche von Rhythmen
    des Körpers, nicht von Emotionen. Die Emotion, längst
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