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Nachschrift zum Namen der Rose

Nachschrift zum Namen der Rose

Titel: Nachschrift zum Namen der Rose
Autoren: Umberto Eco
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beschädigen die Menschen fünf
    Monate lang.. .« (Apokalypse 9,1-II)
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    »Er hatte mich gewarnt... es hatte wirklich... die Kraft von tausend
    Skorpionen...« (Malachias von Hildesheini in Der Name der Rose, S. 527) Die Metaphysik des
    Kriminalromans
    Nicht zufällig fängt das Buch an, als ob es ein Krimi wäre (und
    täuscht den naiven Leser auch weiterhin, bis zum Schluß, wes-
    halb er womöglich gar nicht merkt, daß es sich hier um einen
    Krimi handelt, in dem recht wenig aufgeklärt wird und der
    Detektiv am Ende scheitert). Ich glaube, daß Krimis den Leuten
    nicht darum gefallen, weil es in ihnen Mord und Totschlag gibt;
    auch nicht darum, weil sie den Triumph der (intellektuellen,
    sozialen, rechtlichen und moralischen) Ordnung über die Unord-
    nung feiern. Sondern weil der Kriminalroman eine Konjektur -
    Geschichte im Reinzustand darstellt. Eine Geschichte, in der es
    um das Vermuten geht, um das Abenteuer der Mutmaßung, um
    das Wagnis der Aufstellung von Hypothesen angesichts eines
    scheinbar unerklärlichen Tatbestandes, eines dunklen Sach-
    verhalts oder mysteriösen Befundes - wie in einer ärztlichen
    Diagnose, einer wissenschaftlichen Forschung oder auch einer
    metaphysischen Fragestellung. Denn wie der ermittelnde Detek-
    tiv gehen auch der Arzt, der Forscher, der Physiker und der
    Metaphysiker durch Konjekturen vor, das

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    heißt durch Mutmaßungen und Vermutungen über den Grund
    der Sache, durch mehr oder minder kühne Annahmen, die sie
    dann schrittweise prüfen.17 Letzten Endes ist die Grundfrage
    aller Philosophie (und jeder Psychoanalyse) die gleiche wie die
    Grundfrage des Kriminalromans: Wer ist der Schuldige? Um es
    zu wissen (um zu glauben, man wisse es), muß man annehmen,
    daß alle Tatsachen eine Logik haben, nämlich die Logik, die
    ihnen der Schuldige auferlegt hat. Jede Ermittlungs- und Kon-
    jekturgeschichte, jede Story von Aufklärung und Vermutung
    erzählt uns etwas, dem wir seit jeher beiwohnen (pseudo-
    heideggerisches Zitat). Damit ist klar, warum sich der Haupt-
    strang meiner Geschichte (wer ist der Mörder?) in so viele
    Nebenstränge verzweigt: in lauter Geschichten von anderen
    Konjekturen, die alle um die Struktur der Vermutung als
    solcher kreisen.
    Ein abstraktes Modell der Vermutung ist das Labyrinth.
    Allerdings gibt es drei Arten von Labyrinthen. Erstens das
    klassisch-griechische, das des Theseus. In diesem Layrinth
    kann sich niemand verirren: Man tritt ein und gelangt irgend-
    wann ins Zentrum und vom Zentrum wieder zum Ausgang.
    Darum sitzt im Zentrum der Minotaurus, andernfalls hätte die
    Sache gar keinen Reiz und wäre ein simpler Spaziergang.
    Spannend wird sie, wenn überhaupt, nur dadurch, daß man
    nicht weiß, wohin man gelangt und was der Minotaurus dann
    tut. Aber wenn man das klassische Labyrinth auseinanderzieht,
    hat man
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    einen Faden in der Hand, den Faden der Ariadne. Das klassische
    Labyrinth ist der Ariadne-Faden seiner selbst.
    Zweitens gibt es das barock-manieristische Labyrinth, den
    Irrgarten. Wenn man es auseinanderzieht, erhält man eine Art
    Baum, ein Gebilde mit zahlreichen Ästen und Zweigen aus toten
    Seitengängen. Es hat einen Ausgang, aber der ist nicht leicht zu
    finden. Man braucht einen Faden der Ariadne, um sich nicht zu
    verirren. Dieses Labyrinth ist ein Modell des trial-and-error-
    Verfahrens.
    Drittens schließlich gibt es das Labyrinth als Netzwerk oder,
    um den Begriff von Deleuze und Guattari aufzunehmen, als
    Rhizom. Das Rhizom-Labyrinth ist so vieldimensional vernetzt,
    daß jeder Gang sich unmittelbar mit jedem anderen verbinden
    kann. Es hat weder ein Zentrum noch eine Peripherie, auch
    keinen Ausgang mehr, da es potentiell unendlich ist. Der Raum
    der Mutmaßung ist ein Raum in Rhizomform. Das Labyrinth
    meiner Bibliothek ist zwar noch ein manieristisches, aber die
    Welt, in der zu leben William begreift, ist schon rhizomförmig
    strukturiert - oder jedenfalls strukturierbar, wenn auch nie
    definitiv strukturiert.
    Ein achtzehnjähriger Junge sagte mir nach Lektüre des
    Buches, er habe nichts von den theologischen Diskussionen
    begriffen, aber sie wirkten im Buch wie Verlängerungen des
    räumlichen Labyrinths (wie thrilling music in einem Hitchcock-Film). Ich glaube, es ist wohl tatsächlich so etwas geschehen:
    Auch der naivste
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    Leser hat instinktiv gespürt, daß er vor einer Geschichte von
    Labyrinthen stand - und nicht nur von räumlichen Labyrinthen.
    Man könnte geradezu sagen, daß die
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