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Nach uns die Kernschmelze

Nach uns die Kernschmelze

Titel: Nach uns die Kernschmelze
Autoren: Robert Spaemann
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»Mitteln« und »Nebenwirkungen« liegt darin, dass Mittel selbst als diese gewollt werden müssen, also Unterzwecke sind, während Nebenwirkungen nicht gewusst, gewollt und herbeigeführt, sondern nur »in Kauf genommen« werden. So etwa ist die Zerstörung einer Kaserne im Krieg ein Mittel zur Erreichung des Kriegszieles, die Zerstörung der benachbarten Wohnhäuser aber eine Nebenwirkung, die mangels ausreichender Begrenzungsmöglichkeit der Sprengwirkung einer Bombe »in Kauf genommen« wird. Allerdings kann der Terroreffekt von Angriffen auf zivile Objekte auch selbst als Kriegsmittel beabsichtigt sein.
    Dass der Handelnde in der Wahl der Mittel nicht frei ist, dass also nicht »der Zweck jedes Mittel heiligt«, ergibt sich aus einer einfachen Überlegung. Die Zwecke der Menschen sind verschieden. Die Mittelwahl des einen kann für den anderen Vereitelung seines Zweckes sein. Das Recht eines jeden, jeden anderen in seiner Zweckverfolgung nach Maßgabe der eigenen Zwecke beliebig zu behindern, würde den Begriff des Rechts selbst unmittelbar aufheben. Eine solche Befugnis wäre gleichbedeutend mit dem Ende einer Rechtsordnung überhaupt. Andererseits heißt »Mittel anwenden«, oder »Kosten aufwenden« immer: die Möglichkeit der Verfolgung anderer Zwecke einschränken. Diese anderen Zwecke können sowohl die des Handelnden selbst als auch die Zwecke anderer sein. Die Kosten einer Ferienreise können den Bau eines Hauses verzögern. Und in einem sehr allgemeinen Sinne behindert auch jede Zielverfolgung eines Menschen mögliche Zielerreichungen eines anderen. Wenn die Ressourcen knapp sind, steht das Verbrauchte nicht mehr zur Verfügung, weder für den Verbraucher selbst noch für einen anderen.
    In beiden Fällen kann sich ein moralisches Problem stellen. Es gibt Pflichten des Menschen gegen sich selbst. Wer für einen Augenblicksgenuss seine Gesundheit ruiniert, verletzt eine solche Pflicht. Dies zu begründen würde über unser Thema hinausführen. Den Pflichten gegen sich selbst korrespondieren nämlich keine einklagbaren Rechte. Das Verhältnis zu sich selbst ist kein durch Regeln der Gerechtigkeit normiertes Verhältnis. Volenti non fit iniuria . (Dem, der bekommt, was er will, geschieht kein Unrecht.) Wo es hingegen um das Verhältnis des Handelnden zu Betroffenen geht, die mit ihm nicht identisch sind, da entsteht das Problem der Gerechtigkeit, das heißt der Zumutbarkeit der Nebenfolgen des Handelns, und zwar stellen sich in diesem Zusammenhang vor allem zwei Fragen:
1. 
Welches sind die Kriterien der Zumutbarkeit?
2. 
Wer trägt die Verantwortung für die Zumutung von Handlungsnebenfolgen?
    Kriterien der Zumutbarkeit : Hinsichtlich der Frage der Zumutbarkeit gibt es zwei extreme Auffassungen. Die erste ist die anarchistische . Sie geht davon aus, dass es kein anderes Kriterium für Zumutbarkeit gibt als die wirkliche Zustimmung der Betroffenen. Dahinter steht folgende richtige Erkenntnis: Die Freiheit des Menschen besteht gerade darin, dass nicht andere über den Wert und Rang seiner Wünsche und Interessen zu entscheiden haben. Zur Freiheit gehört, dass ich den Dingen für mich die Bedeutung geben kann, die ich selbst ihnen zu geben wünsche. Der Bereich, in dem die individuellen Präferenzen ohne Bevormundung den Ausschlag geben, ist der freie Markt.
    Als Lösung des Gerechtigkeitsproblems stößt der Anarchismus jedoch auf einige grundsätzliche Schwierigkeiten:
    a) Da jedes Handeln Nebenfolgen zeitigt, durch welche andere in Mitleidenschaft gezogen werden, würde jedes Handeln vereitelt werden können, wenn nur einer derauch noch so entfernt in Mitleidenschaft Gezogenen Widerspruch erhöbe. Niemand könnte mehr bauen, wenn jeder die Beeinträchtigung seines subjektiven Wohlbefindens durch den Bau des anderen geltend machen könnte, ohne die Unzumutbarkeit dieser Beeinträchtigung nach allgemeinen Kriterien für Zumutbarkeit aufzeigen zu müssen. Unterlassung jeden Handelns aber ist erst recht unzumutbar für ein freies Wesen.
    b) Die anarchistische Forderung muss deshalb wenigstens eine von zwei Hilfsannahmen machen: Sie muss entweder voraussetzen, dass die menschlichen Wünsche »von Natur« mit den vorhandenen begrenzten Mitteln zu ihrer Befriedigung in prästabilierter Harmonie stehen. Oder sie muss voraussetzen, dass alle Menschen ihre Ansprüche von sich aus auf ein »gerechtes Maß« zurückschrauben. Die eine Voraussetzung macht den Menschen zum Tier, die andere zum Heiligen. Die erste
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