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Nach uns die Kernschmelze

Nach uns die Kernschmelze

Titel: Nach uns die Kernschmelze
Autoren: Robert Spaemann
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Annahme wird durch die Geschichte widerlegt. Gäbe es jene prästabilierte Bedürfnisstruktur, dann hätten die Menschen nicht alles darangesetzt, durch Entfaltung der Produktivkräfte die Befriedigungsmöglichkeiten zu vermehren, und sie hätten nicht in Funktion dieser Vermehrung die Bedürfnisse selbst ausgeweitet. Die Widerlegung der zweiten Annahme folgt logisch aus der ersten. Mit der Bereitschaft zu einer »gerechten Lösung« von Interessenkonflikten könnte man nur dann mit Sicherheit rechnen, wenn sie angeboren wäre. Sie würde dann eine Art von »natürlichem Bedürfnis« sein, waswiederum durch den Gang der Geschichte widerlegt wird. Die Bereitschaft, »gerechte Lösungen« zu akzeptieren, setzt die Tugend der Gerechtigkeit voraus. Für Tugenden aber gilt das Wort Spinozas: »Alles Vortreffliche ist ebenso schwierig wie selten.«
    Wegen der unter a) und b) genannten Schwierigkeiten des Anarchismus ist dieser historisch selten in Reinform aufgetreten, sondern öfter in einer sozialistischen Variante, die eine vorgängige Verschmelzung von Einzelinteressen und Kollektivinteressen ins Auge fasst. So fordert zum Beispiel Proudhon, politisches Leben und private Existenz, gesellschaftliche und individuelle Interessen müssten zunächst miteinander identisch werden, dann werde deutlich, dass aller Zwang verschwunden sei und wir uns in der vollen Freiheit der Anarchie befänden. Marx hat richtig gesehen, dass eine solche Identität nur unter der Bedingung möglich ist, dass das Grundphänomen allen bisherigen Wirtschaftens beseitigt ist, das Phänomen der Knappheit. Da indessen, wie wir heute wissen, Knappheit aus ökologischen, physikalischen und anthropologischen Gründen prinzipiell unaufhebbar ist, bleibt die definitive Aufhebung des Dualismus von Individualinteresse und Allgemeininteresse eine Fiktion, der nur durch Zwang allgemeine Geltung verschafft werden kann, sodass der Anarchismus sich selbst aufzuheben genötigt ist.
    c) Die dritte Schwierigkeit, die der anarchistischen Lösung im Wege steht, ist die folgende: Wirklich zustimmen können den jeweiligen Handlungsfolgen nur die zur Zeit der Handlung existierenden mündigen Mitmenschen. Betroffen sind aber auch Unmündige und unter Umständen auch noch gar nicht geborene Menschen. Die Frage der Zumutbarkeit für diese muss also von anderen als von ihnen selbst entschieden werden. Die Kriterien für die Gerechtigkeit solcher Entscheidungen, also die Kriterien der Zumutbarkeit künftiger Zustimmung, müssen daher von der wirklichen Zustimmung der Betroffenen verschieden sein, oder es gibt gar keine Kriterien der Gerechtigkeit.
    Die zweite Lösung des Problems der Zumutbarkeit ist das konsensuelle Verfahren . Dabei wird die Frage auf eine abstraktere Ebene verlegt. Angesichts der Unmöglichkeit, in jedem Einzelfall die faktische Zustimmung der Betroffenen zu einer Handlung mitsamt ihren Folgen zu erreichen, werden Verfahren eingeführt, mittels derer die Frage nach der Zumutbarkeit im Einzelfall entschieden wird. Nicht die Einzelentscheidungen selbst, sondern diese Verfahren bedürfen nun der allgemeinen Zustimmung. Im Unterschied zu der anarchistischen Konstruktion kann daher jederzeit ein Konflikt ausbrechen zwischen der allgemeinen Zustimmung zum Verfahren und dem Widerstand eines Betroffenen gegen eine bestimmte, für ihn nachteilige Lösung, die aufgrund des vereinbarten Verfahrens zustande kam. Fürdiesen Fall muss eine Zwangsgewalt installiert sein, die der auf legitime Weise zustandegekommenen Lösung zur Durchsetzung verhilft. In dieser, der rechtsstaatlichen Konzeption, gilt also als zumutbar, was in einem konsensuellen Verfahren für zumutbar erklärt wurde.
    Auch diese Lösung stößt auf Schwierigkeiten, wenngleich nicht auf unüberwindliche. Es sind vor allem die beiden folgenden. Erstens: Der einstimmige Konsens aller bei der Einrichtung von Verfahren – also bei der Verabschiedung einer Verfassung – ist zwar nicht so unmöglich wie der Konsens bezüglich bestimmter Einzelentscheidungen. Er ist aber ebenfalls normalerweise nicht zu erwarten. Eine Diskussion des Für und Wider kann nicht so lange dauern, bis der Letzte überzeugt ist. Es kann nicht für jeden neu Hinzukommenden die Verfassungsdebatte neu eröffnet werden. Zweitens: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Einzelne ungerecht sind, das heißt solche Verfahren begünstigen, durch die sie aufgrund bestimmter natürlicher oder sozialer Startbedingungen begünstigt werden.
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