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Nach uns die Kernschmelze

Nach uns die Kernschmelze

Titel: Nach uns die Kernschmelze
Autoren: Robert Spaemann
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Nebenwirkungen menschlicher Handlungen können nämlich Menschen betreffen, die an der Statuierung der Verfahren, in welcher über deren Zulässigkeit entschieden wird, prinzipiell nicht mitwirken können, weil sie zu diesem Zeitpunkt unmündig sind oder weil sie noch gar nicht existieren. Ihre Zustimmung muss also antizipiert werden. Dies kann nur geschehen, wenn wir, unabhängig von der wirklichen oder mit Gründen präsumierten Zustimmung zu den Entscheidungen oder Verfahren, über inhaltliche Kriterien verfügen, die die Grenzen des Zumutbaren markieren.
    Alle Theorien, die die Rechtsphilosophie aufstellt, gründen auf dem Gedanken einer diskursiven Vermittlung von Interessen; sie finden ihre Grenze erstens in dem Umstand, dass wir es in der Gesellschaft auch mit Kindern und mit Geisteskranken zu tun haben, die an diesem Diskurs nicht teilnehmen können. Auch über diese dürfen die Diskursteilnehmer jedoch nicht beliebig disponieren. Warum nicht? Warum dürfen die Menschenrechte nicht an das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen geknüpft werden, zum Beispiel daran, dass jemand imstande ist, die Menschenrechte überhaupt zu verstehen und geltend zu machen?
    Deshalb nicht, weil jede inhaltliche Definition von Menschen jene bestimmte Zahl von Menschen privilegieren würde, welche die Befugnis hätte, die Definition festzulegen und über das Vorliegen der Merkmale zu entscheiden. Es gäbe gar keine Menschenrechte, wenn es in das Belieben bestimmter Menschen gestellt wäre, darüber zu entscheiden, ob jemand Träger solcher Rechte ist oder nicht. Daher bleibt als Kriterium nur die biologische Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens . Solange Menschen nicht mit Affen gekreuzt werden können, ist die Frage, wer Träger von Menschenrechten ist, so, aber auch nur so zweifelsfrei entscheidbar.
    Die zweite Grenze der Diskurstheorie der Gerechtigkeit liegt in dem Umstand, dass die Nebenfolgen unserer Handlungen und also auch unserer politischen Entscheidungen Menschen treffen, die zur Zeit unserer Handlungen und Entscheidungen noch gar nicht leben. Die menschliche Gemeinschaft übergreift die Generationen. Aber kein Instinkt begrenzt unsere Handlungsmöglichkeiten auf das Maß, das durch die Lebensbedürfnisse der später Lebenden gesetzt ist. Wir müssen dieses Maß selbst setzen. Wir haben unsere Handlungen vor künftigen Geschlechtern zu verantworten. Andererseits freilich haben wir durch Erziehung, durch »Einstimmung« der folgenden Generation in unsere Wertschätzungen dafür zu sorgen, dass die künftigen Geschlechter imstande sind, in der Vergangenheit, deren Folgen sie zu tragen haben, etwas anderes als bloße Fremdbestimmung zu sehen, nämlich ihre eigene Geschichte. Diese Verantwortung gegenüber den Späteren folgt aus einer elementaren Billigkeitserwägung. Jeder Handelnde kann nur insoweit handeln, als andere zuvor ihm nicht seinen Handlungsspielraum durch exzessive Ausdehnung des ihren genommen haben. Ohne dass sich jede Generation als Glied in einer solidarischen Gemeinschaft der Generationen betrachtet – mit Schuldigkeiten nach hinten und nach vorn –, gibt es gar kein menschliches Leben auf der Erde. Um zu bestimmen, was diese Schuldigkeiten im Einzelnen bedeuten, sind freilich weitere Überlegungen erforderlich.
    Das Subjekt der Verantwortung : Ehe wir uns der Frage nach den inhaltlichen Kriterien der Zumutbarkeit fürBetroffene, die selbst nicht zu Wort kommen, zuwenden, haben wir zunächst die Frage nach dem Subjekt der Verantwortung zu stellen. Es scheint, als trage von Natur jeder Handelnde die volle Verantwortung für die Nebenfolgen seiner Handlungen. Eine einfache Überlegung kann uns jedoch darüber belehren, dass das nicht möglich ist, und zwar deshalb nicht, weil es Handeln überhaupt unmöglich machen würde. Müssten wir stets versuchen, uns die unendlich komplexe Gesamtheit der langfristigen Folgen unseres Tuns vor Augen zu halten, ja darüber hinaus sogar die Folgen unserer Unterlassungen, das heißt die mutmaßlichen Folgen aller alternativen Handlungsmöglichkeiten, dann würde die selektive Funktion der Zwecksetzung hinfällig und damit Handeln selbst illusorisch. Darum gehören zu den Voraussetzungen verantwortlichen Handelns Institutionen, die den Bereich der Nebenfolgen genau umschreiben, den das handelnde Individuum zu verantworten hat. Das »Erzeugerprinzip« bedarf der gesetzlichen Festsetzung und Definition. Nur durch eine solche Festsetzung eines beschränkten Bereichs der
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