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Nach uns die Kernschmelze

Nach uns die Kernschmelze

Titel: Nach uns die Kernschmelze
Autoren: Robert Spaemann
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Bereich pflichtmäßiger Verantwortung haben, innerhalb dessen wir zu handeln verpflichtet sind und innerhalb dessen Nichthandeln schuldhaftes Unterlassen sein kann. Darüber hinaus aber haben wir nicht zu verantworten, dass die Welt ist, wie sie ist. Wo uns ein eindeutig richtiges Handeln nicht möglich ist, da bleibt die Unterlassung des Handelns immer ein legitimer Ausweg, für dessen Konsequenzen wir keine Verantwortung zu tragen haben.
    Die Dynamisierung menschlicher Lebensverhältnisse in der Neuzeit hat diesen Gedanken fraglich gemacht.Mit Bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse sind wir heute geneigt, jeden Zustand als einen von uns zu verantwortenden anzusehen; wenn er uns nicht der bestmögliche zu sein scheint, sind wir geneigt, eine Pflicht zu seiner Verbesserung zu unterstellen, was immer wir darunter verstehen mögen. Ob wir uns mit einer solchen generellen Optimierungspflicht nicht übernehmen, möchte ich hier dahingestellt sein lassen.
    Die neuzeitliche Denkweise hängt eng zusammen mit der Dynamisierung der Naturbeherrschung. Sie hat gegenüber allen früheren Perioden der Menschheit eine qualitativ neue Dimension erreicht. Entscheidend ist, dass sie nicht mehr einen hierarchischen Aufbau der Natur mit dem Menschen an der Spitze voraussetzt, sondern einen dynamischen Prozess progressiver Unterwerfung der Natur unter den Menschen, dem sich die Natur als Objekt entgegenstellt. Bis vor Kurzem war der Prozess noch dadurch charakterisiert, dass er einerseits zwar Natur fortschreitend menschlichen Zwecksetzungen unterwarf, sie andererseits aber doch noch als unendlich Umgreifendes betrachtete, dessen Regenerationsfähigkeit und dessen Kapazität, menschliche Handlungsfolgen zu neutralisieren, prinzipiell unbegrenzt ist. Herrschaft über die Natur besagte nicht: Verantwortung für die Erhaltung und Reproduktion der Natur, Verantwortung für die Erhaltung der elementaren Randbedingungen der menschlichen Existenz. Archaische Kulturen verhielten sich demgegenüber in diesem Sinne partiell verantwortlich; so etwa, indem sie diejenige Tierrasse,von deren Bejagung sie lebten, vor der Ausrottung schützten. Solche partielle Verantwortung zur Erhaltung der ökonomischen Basis eines Berufszweiges, zum Beispiel der Fischerei, wird bis in die Gegenwart hinein wahrgenommen.
    Erstmals aber tritt heute die Interdependenz aller ökologischen Systeme ins Bewusstsein. Diese Interdependenz ist von der Art, dass sie zwar von den verschiedensten partiellen Systemperspektiven aus wahrnehmbar ist und so etwas wie den Charakter eines Gesamtsystems hat, dass aber der funktionale Zusammenhang dieses Gesamtsystems, das ja den Menschen mit umgreift, wegen seiner hohen Komplexität nicht vollständig theoretisch fassbar und abbildbar ist. Schon die Anwendung des Systembegriffs wird hier problematisch, weil jedes System eine Umwelt voraussetzt, von der es sich abhebt, während die Natur als Ganze gerade umweltlos ist. Die Unmöglichkeit einer wissenschaftlichen Theorie vom Ganzen der Natur wiederum hat zur Folge, dass Nebenfolgen unserer Handlungen mit Bezug auf die Natur als Ganzes prinzipiell nicht vorhersehbar sind. Die moderne Planungsforschung hat vielmehr gezeigt, dass jeder Versuch, durch Ausweitung planender und geplanter Eingriffe die Nebenfolgen in den Griff zu bekommen, nur neue und noch schwerer zu bewältigende Nebenfolgen erzeugt.
    Noch aus einem anderen Grund ist der Gesamtzusammenhang der Natur für uns kein möglicher Gegenstand kontrollierbarer Eingriffe. Das menschlicheWohlbefinden oder Glück ist nicht in der Weise mit Naturbedingungen verknüpft, dass die Faktoren, durch die es bedingt wird, eindeutig fixierbar wären. Aristoteles sagt, die menschliche Seele sei »in gewisser Weise alles«. Wir können schon keinen Katalog derjenigen Tiere und Pflanzen aufstellen, die für die menschliche Ernährung nützlich sind, denn wir kennen nicht die Möglichkeiten für Ernährung und Heilung, die noch in Lebewesen verborgen sind, welche uns im Augenblick nichts bedeuten. Viel weniger noch lässt sich eine funktional eindeutige Zuordnung von natürlichen Arten und menschlichem Glück herstellen. Warum sind wir denn traurig, wenn wir erfahren, dass irgendwo in der Welt eine Vogelart ausgerottet wurde, die wir wahrscheinlich ohnehin nie zu Gesicht bekommen hätten? Es ist offenbar so, dass das Glück des Menschen gerade mit dem nicht auf ihn bezogenen Reichtum des Wirklichen zusammenhängt. Die Reduktion der Welt auf das,
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