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Nach uns die Kernschmelze

Nach uns die Kernschmelze

Titel: Nach uns die Kernschmelze
Autoren: Robert Spaemann
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Verantwortung kann dann auch Unterlassung definiert werden, ohne dass dazu der Vergleich mit allen alternativen Handlungsmöglichkeiten erforderlich wäre. Solche institutionellen Vorgaben sind übrigens nicht nur bezüglich der Nebenfolgen erforderlich, sondern auch bezüglich der Zielsetzungen des Handelns und seiner konkreten Gestalt. Nur wo durch kulturelle »Selbstverständlichkeiten« der größte Teil unseres Handelns vorgezeichnet ist, findet jene Entlastungstatt, die es überhaupt möglich macht, innerhalb des gegebenen Rahmens freie Entscheidungen zu treffen oder auch den vorgegebenen Rahmen selbst – nicht generell, aber mit bestimmter begrenzter Zielsetzung – in Frage zu stellen. Sind es vor allem die informellen, kulturellen, sittlichen und religiösen Traditionen, die diese Vorgabe leisten, so ist es vor allem Sache des Staates, die Verantwortung für die Nebenfolgen zu tragen, zu definieren und zu verteilen. Ja, dies ist seine wichtigste Aufgabe überhaupt. Für den Staat gilt nicht, wie für das Individuum, dass das Handeln nur durch partielle Blindheit gegen entferntere Folgen ermöglicht wird. Der Staat hat, im Unterschied zum Individuum, die Pflicht, so weit zu sehen, wie es unter Zuhilfenahme aller in einer bestimmten Epoche zur Verfügung stehenden Mittel möglich ist. Gerade deshalb kann er sich selbst nicht, ohne seine eigentliche Aufgabe zu verfehlen, als Verwirklicher von »Zielen«, von »Programmen« verstehen wollen. Er kann seiner primären Aufgabe, die unerwünschten Nebenfolgen menschlicher Zweckhandlungen zu neutralisieren, nur genügen, wenn er nicht selbst als der größte Realisierer von Zwecken auch die größten und dann von niemandem mehr kontrollierten Nebenfolgen produziert. In Familie, Gemeinde und Staat, nicht im Individuum konkretisiert sich die Pflicht des Menschen, seine Zweckverfolgung so einzuschränken, dass nicht Risiken auf andere, insbesondere aber auf kommende Generationen abgewälzt werden.
    II – Gesichtspunkte zur Beurteilung
    Die Frage, welche Handlungsfolgen ihrer Natur nach unzumutbar sind, ist deshalb eine Frage der politischen Moral. Angesichts der ökologischen Probleme der Gegenwart, insbesondere der Frage der Nutzung der Kernenergie, sind wir dabei auf elementare Überlegungen angewiesen, denn die ökologische Situation stellt uns vor moralische Fragen, die ohne Beispiel sind. Die »Natur« im Ganzen war von der Antike bis zur Gegenwart nicht Gegenstand menschlichen Handelns, sondern Voraussetzung desselben. Das Handeln hatte sich in der traditionellen Ethik zwar nach der Natur zu richten, aber nicht deshalb, weil die Natur verletzlich wäre, sondern weil ein naturwidriges Handeln sich selbst zum Scheitern verurteilt. Der Mensch kann, das war die Überzeugung der Alten, nicht glücklich werden, wenn er sein Glück gegen die Natur zu erreichen sucht. Bis zum 16. Jahrhundert betrachtete der Mensch sich selbst als Teil der Natur, und zwar als deren Spitze. Die Lehre von der menschlichen Seele gehört für die ältere philosophische Tradition zur »Physik«. Das setzte voraus, dass die Natur ihrerseits nach Analogie menschlichen Lebens und Handelns verstanden wird, Naturprozesse also als zielgerichtete Prozesse. Naturbeherrschung ist deshalb im klassischen Verständnis selbst ein natürliches Verhältnis. Sie ist eine Form von Symbiose. Natur wird von vornherein unter dem praktischen Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit für den Menschen gesehen. Aber diese Perspektive spricht der Natur nicht das Selbstsein ab. Zum Selbstsein der Natur gehört vielmehr ihre Dienlichkeit für Zwecke des höchstens Naturwesens, des Menschen.
    Die Natur als Ganze bleibt in diesem Weltverhältnis stets das Umgreifende. Sie kann den zerstören, der sich gegen sie und ihre Ordnung vergeht. Sie selbst bleibt immer dieselbe. Wir haben ihr So-und-nicht-anders-Sein nicht zu verantworten. Von diesem Hintergrund her ist es zu verstehen, wenn zum Beispiel Thomas von Aquin in seiner Handlungstheorie die libertas specificationis , die Freiheit, so oder anders zu handeln, unterscheidet von der libertas exercitii , der Freiheit zu handeln oder nicht zu handeln. Wir sind heute, von einem totalen Begriff der Praxis her, geneigt, jedes Nichthandeln nur als eine andere Form von Handeln zu verstehen, die wir auf jeden Fall verantworten müssen. So etwa pflegt man zu sagen: Wer nicht wählt, wählt die stärkere Partei. Thomas von Aquin ging davon aus, dass wir zwar einen gewissen begrenzten
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