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Nach uns die Kernschmelze

Nach uns die Kernschmelze

Titel: Nach uns die Kernschmelze
Autoren: Robert Spaemann
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Zumindest kann nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne sich durch die von der Mehrheit beschlossenen Verfahren benachteiligt fühlen. Damit der rechtsstaatliche Weg, Zumutbarkeit festzustellen, seinerseits für jedermann zumutbar ist, müssen daher bestimmte zusätzliche Bedingungen erfüllt sein:
    a) Verfahren und Debatte über die Verfahren müssen institutionell getrennt sein. Die Verabschiedung von Gesetzen kann das Ende von Debatten nicht abwarten,sie darf dieses Ende aber auch nicht dekretieren. Der Grund ist der folgende: Es ist einleuchtend, dass Nichthandeln oft ebenso weitreichende Konsequenzen hat wie Handeln, ja, dass es manchmal schlimmere Folgen hat als falsches Handeln. Es ist ferner einleuchtend, dass Handeln meistens unmöglich wäre, wenn dem abwägenden Für und Wider nicht durch eine Entscheidung ein Ende gesetzt würde. Es ist aber damit nicht gesagt, dass die Entscheidung stets richtig ist. Es gibt keine apriorische Identität von Machthabern und Rechthabern. Gehorsam gegenüber der Entscheidung des legitimen Machthabers, also zum Beispiel auch der Mehrheit, ist also nur zumutbar, wenn es nicht mit der Zumutung verbunden ist, dem Machthaber auch in der Sache recht zu geben. Dass der Machthaber sich bei seiner Entscheidung von dem leiten ließ, was er für das Wohl der Gesamtheit hält, kann aber nur dann unterstellt werden, wenn er sich nicht weigert, in der Sache selbst weitere Belehrung zu erhalten. Daraus folgt: Die Debatte über die Richtigkeit einer Entscheidung muss weitergehen dürfen. Jeder muss das Recht haben, frei über politische Gegenstände zu sprechen, und die fortgesetzte Debatte muss die Möglichkeit haben, die Verfahren zu einem späteren Zeitpunkt zu beeinflussen: Rahmenentscheidungen dürfen nicht irreversibel sein.
    b) Das letzte Wort, die Ordnung der Entscheidungsverfahren betreffend, muss bei der Mehrheit des Volkes liegen. Wo aber eine Minderheit die Entscheidung trifft, damuss die Mehrheit die Möglichkeit besitzen, über die Kriterien zu entscheiden, aufgrund derer jemand Mitglied dieser Minderheit ist. Dieses Recht der Mehrheit beruht nicht auf der irrigen Annahme, die Mehrheit hätte immer in der Sache recht. Sie beruht auch nicht auf der Annahme, es gäbe eine natürliche Autorität einer Gruppe von Menschen über eine andere, nur weil die erstere zahlreicher ist. Es beruht vielmehr umgekehrt auf der Abwesenheit von so etwas wie einer höheren Ermächtigung, wie wir sie etwa in bestimmten Institutionen, vor allem in Stiftungen, vor uns haben. Die Legitimität qualitativer Differenzierung kann auf verschiedene Art begründet werden. Solche Begründungen sollten normalerweise nicht voluntaristisch sein, sondern aus inhaltlichen Gesichtspunkten folgen, also aus ihrer »Vernünftigkeit«. Wo diese inhaltliche Begründung allerdings nicht einleuchtet, wo sie bestritten und wo gefragt wird, wer denn die Vernünftigkeit derer garantiere, die eine bestimmte Ordnung für vernünftig halten, da bedarf jede Legitimität letzten Endes der Verankerung in der Zustimmung der Mehrheit. Freilich kann eine Mehrheit nur dann beanspruchen, Repräsentant der Gesamtheit zu sein, wenn die Gesamtheit durch ein hohes Maß an Homogenität gekennzeichnet ist, sodass jeder prinzipiell die Chance hat, seine Meinung als Mehrheitsmeinung zu erleben. Ethnische oder religiöse Konflikte, aber auch fundamentale Gewissensfragen können nicht durch Mehrheitsentscheidungen legitimitätsstiftend gelöst werden.
    c) Wem die Ordnung des Verfahrens oder eine bestimmte Entscheidung über Zumutbarkeit als für ihn selbst unzumutbar erscheint, der muss die Möglichkeit haben, sich den Auswirkungen dieser Entscheidungen durch Auswanderung zu entziehen. Der Grund hierfür liegt im Folgenden: Es gehört zwar zum Menschen, in einer politischen Ordnung zu leben; aber jede bestimmte politische Ordnung und alle bestimmten Landesgrenzen bleiben deshalb doch »zufällig«. Der Aufenthalt in einem Land kann nur dann als stillschweigende Loyalitätserklärung interpretiert werden, wenn es jedem freisteht, das Land, auch unter Mitnahme seines Eigentums, zu verlassen. Der Direktion eines Gefängnisses, in das man ohne eigene Schuld geraten ist, schuldet man keine Loyalität.
    Aber auch wenn alle diese Bedingungen erfüllt sind, garantiert die Gründung der Entscheidungsprozesse auf konsensuelle Verfahren noch nicht deren Gerechtigkeit, das heißt die Zumutbarkeit für jeden, ihre Ergebnisse zu akzeptieren. Die
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