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N. P.

N. P.

Titel: N. P.
Autoren: Banana Yoshimoto
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wieder.«
    »Hm, das läßt auf einen tierisch heftigen Kampf in deinem kleinen Körper damals schließen«, sagte er.
     
    Im dritten Monat, nachdem Vater uns verlassen hatte, streikte auf einmal meine Stimme – wie um den Zusammenbruch von Mutter, die sich bis dahin zusammengerissen hatte, abzuwenden.
    Es hatte stark geschneit an dem Tag, und nach der Schule hatte ich viel zu lange draußen gespielt. Abends bekam ich hohes Fieber. Ich blieb mehrere Tage im Bett und ging nicht zur Schule. Der ganze Körper tat mir weh, und mein Hals war dick geschwollen.
    Einmal, ich dämmerte gerade in Fieberphantasien dahin, nahm ich die Stimmen meiner Mutter und meiner Schwester wahr.
    »… warum glaubst du das?« sagte Mutter.
    »Ich weiß auch nicht, irgendwie kommts mir so vor«, sagte meine Schwester.
    »Daß Kazami nicht mehr sprechen kann?« fragte Mutter, mittlerweile mit deutlich anschwellendem hysterischem Tonfall.
    »Ja, es kommt mir so vor«, antwortete meine Schwester trocken.
    Sie hatte immer schon eine Art sechsten Sinn gehabt und konnte Kleinigkeiten meistens richtig voraussagen, etwa, wer am Apparat war, wenn das Telefon klingelte, oder ob das Wetter umschlagen würde. Bei diesen Gelegenheiten wirkte sie immer merkwürdig gelassen und erwachsen.
    Ein bißchen erschrocken sagte Mutter: »In Kazamis Gegenwart sollten wir aber darüber nicht reden!«
    »Nein, da hast du recht«, erwiderte meine Schwester.
    Ich kann also nicht mehr sprechen, dachte ich merkwürdig cool. Ich mühte mich ab, aus meiner vom vielen Versuchen ausgetrockneten Kehle irgendeinen Ton herauszupressen, erzielte jedoch nicht einmal ein heiseres Krächzen.
    Ich drehte den Kopf ein wenig und sah aus dem Fenster, mein Blickfeld halb verdeckt durch den Eisbeutel: Die vom Abendrot rosa gefärbten Wolken bildeten prächtige Treppen und zogen gen Westen. Einen Augenblick lang wußte ich nicht mehr, ob alles Tatsache war oder nur Phantasmen meines fiebernden Kopfes:
    Vater war fort und besaß anderswo noch eine Familie.
    Allabendliche Englischstunden.
    Massenweise Schnee – der Schulhof begraben unter strahlendem Weiß – glühende Hitze, schon auf dem Nachhauseweg – diffuses Licht der Straßenlaterne.
    … Aah, plötzlich wurde mir klar, wie es sein mußte, wenn ›alles auf einmal passiert‹.
     
    Tatsächlich, die Erkältung besserte sich, aber meine Stimme kam nicht wieder. Mutter und meine Schwester behandelten mich wie ein rohes Ei, und der Arzt gab zu verstehen, daß meine Nerven überreizt seien, was Mutter auf dem Rückweg von der Praxis beinahe zum Weinen brachte.
    Alle waren verunsichert. Wahrscheinlich hatte sie die Furcht gepackt, ich hätte bereits die Gewalt über meinen Körper verloren.
    Zu Anfang haßte ich meine Stummheit – sie machte mich nervös, aber da Mutter glücklicherweise ihren Optimismus wiedergewann und mich in Ruhe ließ, ging es auch mir bald wieder gut. Ich blieb der Schule fern und tagsüber zuhause, frühmorgens und abends ging ich draußen spazieren.
    So ohne Stimme kam mir allmählich die Sprache abhanden.
    In den ersten beiden Tagen, in denen ich nicht sprechen konnte, hatte ich absolut die gleichen Gedanken gehabt wie sonst auch. Trat mir meine Schwester zum Beispiel auf den Fuß, dachte ich klar und deutlich: »Aua!« – als Wort. Wurden im Fernsehen Bilder mir bekannter Orte gezeigt, dachte ich: »Ach, das ist ja da und da, wann das wohl aufgenommen wurde?« – genauso, als würde ich es aussprechen.
    Doch mit anhaltender Artikulationsunfähigkeit vollzog sich ein subtiler Wandel. Die Farbe hinter den Worten wurde sichtbar.
    Wenn meine Schwester mich liebevoll umsorgte, erschien sie mir in hellem, rosa Licht. Die Worte und Blicke meiner Mutter beim Englischunterricht erreichten mich in ruhigem Gold, und beim Streicheln einer Katze am Straßenrand nahm meine Handfläche goldgelbe Freude auf.
    Ich lebte, indem ich mir alles erfühlte, und dabei wurde mir die immense Begrenztheit der Sprache bedrohlich klar.
    Da ich so jung war, nahm ich das wohl eher physisch wahr, doch ich spürte damals zum ersten Mal ein tiefes Interesse an solchen Worten, die im Begriff stehen, die Mauern des Ausdrucks zu durchbrechen. – Gefäße, die Augenblick und Ewigkeit gleichzeitig zu halten imstande sind.
    Die Heilung kam eines Tages ebenso schlagartig.
    Es regnete, meine Schwester war aus der Schule zurück. Wir beide hatten es uns am Kotatsu {2} gemütlich gemacht und warteten auf Mutter. Ich hatte mich hingelegt, schlief
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