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N. P.

N. P.

Titel: N. P.
Autoren: Banana Yoshimoto
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Straßendekoration. Ich erinnere mich nämlich genau, daß sie mir noch im Augenwinkel flimmerte.
    Als ich mich wieder nach vorne wandte, sah ich auf einmal eine bekannte Gestalt die Straße herunterkommen.
    »Ach, du bists!« platzte ich heraus. »Takases Sohn.«
    »Das stimmt, aber …?« sagte er und sah mich fragend an. Kein Wunder! Hastig stellte ich mich vor.
    »Wir haben uns vor ziemlich langer Zeit mal auf einer Party vom H-Verlag gesehen. Ich heiße Kazami Kanō.«
    Er starrte mich an, bis er schließlich sagte: »Ja, richtig. Das Mädchen, das mit Shōji Toda, dem Übersetzer, zusammen war.«
    »Du hast ein gutes Gedächtnis«, sagte ich.
    »Kein Wunder, wir waren da weit und breit die einzigen jungen Leute!« lachte er.
    »Wohnst du hier in der Gegend?« fragte ich.
    »Ja. Das heißt, eigentlich wohne ich in Yokohama, doch momentan schmarotze ich bei meiner Schwester. Sie wohnt in dieser Straße, weiter oben, und studiert an der T-Uni gleich da vorne Psychologie.«
    »Was!? An der T-Uni?«
    »Ja.«
    »Was für ein Zufall! Ich arbeite da am Institut für Englische und Amerikanische Literatur.«
    »Na so was! Weißt du, das Mädchen, das damals mit mir auf der Party war, das war meine Schwester. Sie heißt Saki.«
    »Wir sind garantiert schon aneinander vorbeigegangen, ohne uns erkannt zu haben!«
    »Hast du Zeit für einen Kaffee?« fragte er. Zeit hatte ich massenweise.
    »Ja, okay«, antwortete ich.
     
    Wir saßen uns in dem vormittäglich leeren Café gegenüber und tranken Kaffee – was ich nie zu träumen gewagt hätte. Für mich war er eine Gestalt aus der Vergangenheit, die nur in der Welt der Fiktion zu existieren schien. Ein merkwürdiges Gefühl. Auf den zweiten Blick hatte er sich sehr verändert. Diese melancholischen Augen, die so gar nicht zu dem weißen Polohemd und den glatten Wangen paßten. Andere Augen als damals, als ich ihn das erste Mal sah.
    »Du hast dich aber verändert, Otohiko.«
    »Ja?«
    »Du wirkst viel älter als ich. Dabei sind wir nur zwei Jahre auseinander. Du siehst, ich weiß alles über dich.«
    »Dann bist du also jetzt zweiundzwanzig?«
    »Genau.«
    »Demnach mußt du damals noch Oberschülerin gewesen sein, richtig?«
    »Richtig.«
    »Fünf Jahre ist das her …? Ich komm mir kein bißchen älter vor – hm, wahrscheinlich, weil ich im Ausland war.«
    »Du warst weg? Wo denn?«
    »In Boston. Ich bin erst diesen April zurückgekommen.«
    Irgendwie besaß er jene undurchdringliche Verschlossenheit, die einem Menschen eigen ist, der im Wirrwarr seines aus der Bahn geratenen Schicksals verzweifelt seinen Stolz zu wahren sucht. Dieses Gefühl hatte ich damals noch nicht gehabt, als ich ihm das erste Mal begegnet war.
    »Vorher hast du doch lange in Japan gewohnt, oder?«
    »Ja, bei meinen Großeltern in Yokohama.«
    »Sofort, nachdem dein Vater gestorben ist?«
    »Ja. Er war zwar schon von zu Hause fortgegangen, als wir noch klein waren, aber meine Eltern haben sich nie scheiden lassen. Meine Großeltern fühlten sich einsam und baten uns, zu ihnen zu ziehen.«
    »Wie alt warst du da?«
    »Vierzehn oder so. Vaters Tod schien für Mutter ein Schock gewesen zu sein, und wir, plötzlich merkwürdig erwachsen, versuchten sie zum Reisen zu bewegen. Wir fuhren also eine Zeitlang herum – tja, und als wir wieder zurückkamen und uns fragten, wie es weitergehen soll, hieß es, ob wir nicht nach Japan zurückkehren wollten. Mutter zögerte, aber wir redeten ihr zu. Die Großeltern waren aufgeschlossen, was Mutters Zukunft anging … ich meine, sie hatten nichts gegen eine zweite Ehe oder so was, und außerdem dachten wir, daß dieses Leben zu dritt Mutter auf die Dauer kaputtmachen würde. Eigentlich wollten wir unser gewohntes Zuhause nicht verlassen, aber wir gaben einfach vor, gehen zu wollen – eigentlich ziemlich tapfer von uns.«
    »Wem sagst du das, bei uns wars genauso. Vater und Mutter ließen sich scheiden, und wir Frauen waren zu dritt – Mutter, meine Schwester und ich.«
    »Ganz schön ungesund, wenn die Übriggebliebenen so auf einem Haufen hängen, was?«
    »Genau. Schon allein dieses überwältigende, ständige Bewußtsein, daß Vater nicht vorhanden ist.«
    »Jede von euch hat bestimmt Phasen durchgemacht, die hart an Neurose grenzten, oder?«
    »Ja, sicher«, sagte ich. »Ich konnte eine Zeitlang nicht sprechen.«
    »Deswegen?« fragte er interessiert.
    »Scheint so. Ohne besondere Ursache fiel meine Stimme aus, und ohne besondere Ursache kam sie
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