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Strafzeit

Strafzeit

Titel: Strafzeit
Autoren: Stefan Ummenhofer , Alexander Rieckhoff
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1. FREITAGSÄRGER
     
    »Freitage!«, brummte Hubertus Hummel wütend. »Ich hasse Freitage.«
    Als wäre es nicht schon schlimm genug gewesen, dass sein Auto heute Morgen nicht angesprungen war und er beim dadurch nötig gewordenen fünfzehnminütigen Marsch von der Südstadt zum Schulhaus auf dem glatten Gehsteig ausgerutscht war, weshalb nun das Hinterteil seines üppigen 95-Kilo-Körpers schmerzte. Nein, jetzt waren dem Hausmeister obendrein die belegten Vollkornbrötchen ausgegangen. Und für einen Besuch beim Bäcker reichte die Zeit vor der nächsten Stunde auch nicht mehr.
    Hubertus war Gymnasiallehrer für Deutsch und Gemeinschaftskunde in Villingen-Schwenningen im Schwarzwald. Genauer gesagt, im Stadtbezirk Villingen. Noch genauer: am Romäusring, direkt neben der historischen Stadtmauer. An der Schule, die er selbst einst besucht hatte – damals, in den Siebzigern und frühen Achtzigern.
    Zu seiner Zeit hatten noch andere Zustände geherrscht. Wissbegierig waren sie gewesen und hatten die Dinge hinterfragt. Umweltverschmutzung, Aufrüstung, die Stationierung der Pershings in Deutschland – daran hatte man sich reiben können. Reiben müssen.
    Und heute? Nichts davon war übrig. Das politische Interesse seiner Neuntklässler ging gegen null. Vor dem Computer und mit ihren iPods kannten sie sich zweifelsohne besser aus als er. Aber in Deutsch? Goethe? Hesse? Dürrenmatt? Brecht? Fehlanzeige.
    »Pah«, murmelte Hubertus vor sich hin. »Was für eine Generation.« Er schlurfte ins Lehrerzimmer, öffnete eine Flasche biodynamisch erzeugten Apfelsaft und nahm gedankenverloren einen Schluck.
    Eine Schulstunde noch, dann war endlich Wochenende. Und es würde nicht ein x-beliebiges Wochenende werden: Am Abend war Eishockey in der Schwenninger Helios-Arena angesagt. Schon die ganze Woche fieberte er der Partie entgegen. Die Schwenninger »Wild Wings«, vielmehr der SERC, wie Hubertus das Team heute noch bezeichnete, obgleich es schon vor einem Jahrzehnt umbenannt worden war, standen im Play-off-Finale gegen den Rivalen aus Ravensburg. Es winkte die Rückkehr in die oberste deutsche Eishockeyliga – dorthin, wo der SERC seit den späten Siebzigern mehr als zwei Jahrzehnte lang gespielt hatte. Mit einem frierenden, leicht korpulenten Fan an seiner Seite, der Woche für Woche jedes Spiel auf einem Stehplatz in Höhe der Mittellinie verfolgt hatte: Hubertus Hummel.
    Natürlich gehörte sein SERC in die erste Liga – die DEL.
    »Best of Five« lautete das Motto dieses Finales gegen Ravensburg. Wer zuerst drei Spiele gewonnen hatte, würde die Niederungen der zweiten Liga verlassen und sich fortan mit den reichen Großstadtvereinen messen dürfen, die allerdings deutlich weniger Eishockeytradition hatten. Heute Abend fand die dritte Partie der Finalserie statt – und sie war natürlich restlos ausverkauft. Beide Mannschaften hatten bislang je einmal gegeneinander gewonnen, also brauchten beide noch zwei Siege bis zum Aufstieg.
    Mit viel Begeisterung und kontrollierter Aggressivität wolle man dem Gegner Paroli bieten, hatte der Schwenninger Trainer in der gestrigen Pressekonferenz gesagt, wie man im Schwarzwälder Kurier hatte lesen können. Kontrollierte Aggressivität, das war gut. Das spiegelte auch Hummels derzeitigen Gemütszustand wider.
    Und wie konnte man diese kontrollierte Aggressivität in einer Schulstunde umsetzen? Ganz einfach: mit einem unangekündigten Test. Sein Gemeinschaftskunde-Leistungskurs in der Zwölften sollte mal zeigen, was er so drauf hatte. Er verdrängte, dass er solche repressiven Maßnahmen früher einmal streng verurteilt hätte.
    Jetzt aber schnell. Hubertus Hummel rauschte um die Ecke in Richtung Klassenzimmer – und prallte fast mit dem Kollegen Mielke zusammen, der Sport und Mathematik unterrichtete. Ausgerechnet Mielke, der braun gebrannte blonde Schönling. Neid und Verachtung hielten sich bei Hubertus die Waage. Durchtrainiert war er, der Mann, aber eben doch ein Spießer. Frau, Kinder, Mitglied in mindestens zehn Vereinen und ein Häuschen im Ortsteil Pfaffenweiler vor den Toren der Stadt. Ein Teil des Establishments eben.
    »Ah, Herr Kollege«, sagte Mielke. »Gut, dass ich Sie treffe. Gehen Sie heute auch zum Eishockey? Da könnten Sie mich doch mitnehmen. Meine Frau braucht unseren Wagen.«
    »Ein andermal gern«, murmelte Hubertus verlegen. »Aber der Wagen ist defekt. Vielleicht sehen wir uns im Bus oder in der Bahn.«
    »Im Bus?«, echote Mielke. »Da braucht man ja
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