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N. P.

N. P.

Titel: N. P.
Autoren: Banana Yoshimoto
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ich, und was er dann murmelte, prägte sich mir ein: »Ich auch.
    Wahrscheinlich sogar fast jeden Tag. Es ist, als läge ein Fluch auf mir.«
     
    Wir versprachen, uns wieder zu treffen, tauschten die Adressen aus und verabschiedeten uns.

 
     
     
    A uch jetzt denke ich manchmal noch an Shōji.
    Wie ich mich in ihn verliebte, als Oberschülerin. Wie ich ihn völlig besessen liebte, ihn förmlich aufsaugte, ganz und gar. Wie wir fast jeden Tag zusammen waren, ausgingen oder zu Hause blieben und ich ihm bei Übersetzungen half. In der Zeit, die er mit mir verbrachte, war er wirklich glücklich. Wirklich.
    Aber ich war einfach der Aufgabe nicht gewachsen, die Müdigkeit aufzuhalten, die begonnen hatte, von ihm Besitz zu ergreifen, lange bevor er mich traf, und mit der sein ganzes bisheriges Leben verwoben war. Es war mir unmöglich, die wahre Bedeutung dieser Melancholie zu begreifen, die seine Persönlichkeit prägte und deren Schattenspiel mich faszinierte. Ich war ein Schmetterling, der in die Kammer seines Herzens hineinflatterte, als dort die Lichter bereits langsam verlöschten. Ich brachte die Reflexe des leuchtenden Sonnenlichts in die Dunkelheit – und irritierte ihn damit nur noch mehr, auch wenn es vielleicht ein Trost war.
    Die Drehbücher meiner Träume von Shōji schreiben deshalb automatisch die Begegnung des ICH von heute mit dem Shōji von damals vor. Jetzt könnte ich ihm nämlich mehr geben als nur dieses Leuchten: Ich könnte ihm schöne Stunden voller Frieden bereiten. Davon bin ich fast überzeugt. Beziehungsweise ich bereue, daß es nicht so war. Aber wahrscheinlich wäre das sowieso real nie möglich gewesen. Ich hätte ihn jedenfalls gerne mit meinem jetzigen ICH kennengelernt. Mein Herz sagt mir das. Vielleicht überschätze ich mich aber auch.
    Und manchmal hört man Sprüche wie: »Die Seelen von Selbstmördern kommen nicht in den Himmel. Für sie bleibt die Zeit stehen, und sie müssen in ihrem Elend verharren.« Verrückt werden könnte ich jedesmal. So ein Blödsinn! Doch noch bevor ich mir das sagen kann, taucht vor mir sein Gesicht mit dem schwachen Lächeln auf. Das Lächeln, das niemanden einbeziehen konnte.
     
    Noch am Morgen des Tages, an dem Shōji starb, war ich in seiner Wohnung gewesen.
    Wie im Traum hatte das Sonnenlicht mit leuchtenden Sommerstrahlen die Gardinen durchflutet. Es war ein schöner Morgen kurz vor Sommeranfang gewesen, genau wie heute.
    Shōji stand morgens immer früher auf als ich. Wenn mich der Wecker so gegen acht wachklingelte – was wegen der Schule nicht zu vermeiden war –, saß Shōji meist schon am Computer. Ich mochte das monotone Klappern und den Anblick seines Ruhe und Konzentration ausstrahlenden Rückens, der mich an meine Kindheit und Mutters Rücken erinnerte. Er war siebzehn Jahre älter als ich, und seine Ruhe neutralisierte meine überschüssige pubertierende Energie zu innerer Ausgeglichenheit. Bei ihm kam ich zur Ruhe. Ich lachte und war übermütig, aber ich besaß Ruhe. Wenn ich es einmal nicht schaffte aufzustehen, weckte er mich nicht, auch wenn ich dadurch zu spät zur Schule kam. Er schickte mich nicht weg, selbst wenn ich die Schule schwänzte. So war er.
    An jenem Morgen jedoch war alles anders.
    Als ich den Wecker abstellte und mich nach ihm umdrehte, schlief Shōji noch. Sein Gesicht war bleich, leblos, er hatte Ränder unter den Augen, und sein Atem ging ganz leise.
    Mir mit meinen achtzehn Jahren wurde bei diesem Anblick schmerzlich und warm zugleich ums Herz. Sachte deckte ich ihn richtig zu und stand auf. Ich zog die Schuluniform an und trank ein Glas Milch.
    Ein stiller Morgen.
    Irgendein fremder Hauch schien sich in die Zimmerluft gemischt zu haben.
    Ich wußte nicht mehr, wo ich meine Armbanduhr ausgezogen hatte, suchte sie, fand sie aber nicht und lieh mir kurzerhand die von Shōji aus, die auf dem Tisch lag. Sie wog schwer, als ich sie ums Handgelenk band. Das Glas des schwarzen Zifferblattes glänzte kalt. Sie stimmte mich auf der Stelle melancholisch. Ich kam mir verlassen vor in diesem fremden Zimmer, als hätte mich Heimweh gepackt.
    An jenem Morgen war es derart still im Zimmer und draußen, daß ich meinte, Shōjis Atmen vom Bett neben dem Fenster vernehmen zu können. Meine Bewegungen wurden immer schleppender. Das Atmen fiel mir schwer. Auf dem Schreibtisch, wo der Computer stand, lag die angefangene Übersetzung der achtundneunzigsten Erzählung. Ich nahm die Blätter auf und sah, daß nicht einmal die
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