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Mystic

Mystic

Titel: Mystic
Autoren: Mark T. Sullivan
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wo sie selbst umgebracht wurde, flossen die Augen von Henry Long Lance über von Freudentränen.
     
    In einer Hand hielt er einen mit Adlerfedern geschmückten Stab und in der anderen eine heilige Pfeife, die aus dem gereinigten Pfeifenkopf gemacht war, der einstmals Ten Trees gehört hatte. Er hob die Pfeife und den Stab mit den Adlerfedern zum Himmel empor und begann zu beten.
    Die Menge zählte jetzt vielleicht tausend Köpfe, Menschen, die von den verschiedenen Reservaten der Lakota gekommen waren, um ihrem Begräbnis beizuwohnen.
    Andie und Gallagher standen in respektvollem Abstand von der Menge neben William Barrett, dem Professor aus Dartmouth, der fast ein Jahr damit verbracht hatte, ihnen dabei zu helfen, Sarah nach Hause zu bringen. Als Gegenleistung hatten sie ihn als Ersten das Tagebuch von Many Horses sehen lassen. Barrett nannte es eine bemerkenswerte anthropologische Entdeckung, konnte jedoch seine Enttäuschung nicht verbergen, dass Gallagher ausgerechnet die Seiten verbrannt hatte, auf denen ihre Version der Geistertanzzeremonie während der letzten grausamen Augenblicke des Kampfes mit dem Bösen beschrieben waren.
    Long Lance hob die heilige Pfeife empor und sang in der Sprache der Lakota. Viele in der Menge schlossen sich ihm an, und bei jeder Pause zwischen den Strophen wandten sie sich in eine andere Himmelsrichtung: von Westen nach Norden, dann nach Osten und schließlich nach Süden.
    Jemand in der Menge blies auf einer Pfeife aus Adlerknochen, und der schrille Klang schwebte davon, prallte an einem weit entfernten Berg ab und kam zurück. Gallagher musste an die Gespräche denken, die er in den letzten Monaten mit Professor Barrett gehabt hatte. Sie waren oft darum gekreist, ob Sarah Many Horses wirklich mit den Toten sprechen konnte; und ob er und Andie während Danbys wahnsinniger Neuinszenierung des längst vergessenen Rituals tatsächlich auf die andere Seite gewechselt waren oder ob sie einfach unter dem chemischen Einfluss der halluzinogenen Mixtur gestanden hatten, die der Mörder sie hatte rauchen lassen.
    Gallagher hatte es von vielen Seiten her betrachtet und war zu der Überzeugung gelangt, dass die von Ten Trees, Painted Horses, Sitting Bull und Wovoka weitergegebenen Rituale eine so reale Kraft besaßen, weil jemand wie Sarah Many Horses ein Leben lang den Glauben an sie bewahrt hatte. Sie glaubte ganz einfach fest daran, dass sie mit ihren Toten sprechen konnte, und Gallagher glaubte es auch.
     
    Jetzt begann Long Lance in der Sprache der Lakota zu beten. Andie schlang ihre Arme um Gallagher und legte ihren Kopf an seine Brust, und er konnte nicht umhin zu denken, dass Emily auf eine Weise recht behalten hatte, wie es ihr, am Tage als sie ihn verließ, nicht bewusst gewesen war. Sie hatte gesagt, dass Gallagher erst an dieses Leben glauben müsse, wenn er an ein Leben nach dem Tode glauben wolle. Und das erfordert den Glauben an die Liebe.
    Gallagher zog Andie nah an sich und ergänzte das, was seine Exfrau ihm hatte zeigen wollen, durch seine eigene Deutung: Wenn man einen anderen Geist wie Sarah Many Horses oder Andie Nightingale bei sich aufnimmt und mit ihm lebt, dann können sie niemals sterben. Und man selbst auch nicht, denn die Aufnahme bedeutet, dass man zum Gefäß der Liebe geworden ist, der unsterblichen Kraft, die Leben und Tod überwindet.
    Gallagher hatte zugelassen, dass Many Horses’ Geschichte in ihm lebte, so wie sie offensichtlich auch viele Jahre lang in Pater D’Angelo gelebt hatte; und deshalb war ihm die Kraft verliehen worden, Wunder zu tun. Gallagher hatte eine Vision vom Leben nach dem Tode empfangen, durch die er nicht nur überleben, sondern schließlich auch sein Leben mit allem Guten und Bedrohlichen annehmen konnte.
     
    Eine Gruppe Männer trat vor und ließ Many Horses’ Sarg ins Grab hinunter. Sie schaufelten Erde in die Grube, und Long Lance begann wieder zu singen. Während er sang, malte er einen Kreis auf den Boden neben dem Grab. Mit Erde, die er aus dem Kreis nahm, formte er einen zweiten Kreis und ein Kreuz, das von West nach Ost und von Süd nach Nord reichte.
    Auf die südliche Spitze des Kreuzes im zweiten Kreis legte er Ten Trees’ Pfeife und einen Lederbeutel, der Many Horses’ Haarlocke, ihre Steine und ein Stück des Papiers enthielt, auf das sie ihr Tagebuch geschrieben hatte.
    Barrett beugte sich zu ihnen herüber und flüsterte: »Jetzt beginnt er den Ritus, mit dem die Seele freigelassen wird.«
    Andie und Gallagher
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