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Mystic

Mystic

Titel: Mystic
Autoren: Mark T. Sullivan
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Morgen graut schon, als Dylan jenseits der Schneegrenze die Stadt und das Pfarrhaus aus Backstein neben der katholischen St.-Edwards-Kirche erreicht. Der Wind ist stärker geworden und bläst nasses Laub durch den Eisregen. Dylan stolpert auf die Haustür des Pfarrhauses zu und hämmert dagegen, bis endlich ein Licht in der Eingangshalle aufscheint und eine ältere Dame in einem Flanellmorgenmantel öffnet.
    »Um Gottes willen, Junge, was ist denn nur los?«, schimpft sie. »Es ist ja noch nicht mal hell, und da kommst du schon und schlägst uns fast die Tür ein, und dabei liegt der gute Pater da oben schwer krank!«
    »Meine Schwester hat das Fieber«, stößt er hervor. »Meine Ma schickt mich nach dem Priester, von dem die Leute sagen, er kann es anhalten.«
    Die Frau droht mit ihrem dicken Finger und zetert: »Hab ich nicht eben gesagt, dass er –«
    Bevor sie zu Ende sprechen kann, hört Dylan hinter ihr einen röchelnden Husten wie bei seiner Schwester, nur tiefer, heiserer. Er erblickt einen großen, erschöpften Mann. Der Priester erinnert Dylan an einen Reiher vor einem Teich im Frühjahr: gebeugt, hager, nach Fisch lungernd, gelbäugig. Ein ovaler Kranz feucht-silbrigen Haars umgibt einen kahlen Kopf, der so knochig ist, dass er wie ein Totenschädel aussieht. Dylan tritt einen Schritt zurück, als hätte er eine Erscheinung.
    Der Priester hustet wieder, bevor er die Hand ausstreckt. »Was ist los, mein Sohn?«
    »Meine Schwester«, stammelt Dylan. »Mama sagt, Sie haben ein paar Leuten mit dem Fieber geholfen, und wir haben doch schon unsere Oma und Tante Kate verloren … Mama hat gehofft …«
    »Ich komme«, sagte der Priester.
    Die ältere Dame fasst ihn am Ellenbogen. »Pater D’Angelo, Sie sind doch selbst so krank, und das Wetter …«
    »Ich bin nicht wichtig«, antwortet der Priester mühsam. »Aber das Mädchen. Helfen Sie mir, mich fertig zu machen.«
     
    Dylan lässt den Priester auf dem Pferd reiten. Er führt die Stute am Zügel durch den Regen und in den Schnee, der auf der Höhe der Blockhütte fällt. Pater D’Angelo spricht wenig während der Stunde Wegs, und was er dem Jungen an Ermutigungen sagen will, wird schnell von schweren Hustenanfällen erstickt. Zweimal sieht sich Dylan nach dem Priester um, der vor sich hin starrt wie in eine bodenlose Tiefe. Zweimal erschauert der Junge und wendet sich ab.
    Seine Mutter wartet an der Tür, eine Decke um die Schultern gelegt. Sie ruft mit unterdrücktem Zweifel in der Stimme, als der Priester mühsam von der Stute herabklettert: »Es ist aus, Pater, Sie brauchen sich nicht zu beeilen.«
    »Atmet sie noch?«, fragt der Priester.
    »Nur ganz schwach«, sagt Hettie.
    »Dann gibt es noch Hoffnung«, sagt der Priester. Er kommt die Stufen herauf und nimmt den Hut ab.
    Hettie fährt sich mit der Hand an den Mund, weil sein Gesicht sie an eine Gestalt erinnert, die sie nachts heimgesucht hat. Wieder und wieder befand sie sich im Traum auf einem Schlachtfeld mit Schützengräben, Rauch und Schlamm. Der Mann mit D’Angelos Gesicht ist Soldat, ein Deserteur, der gefangen genommen und aufs Schlachtfeld zurückgeschickt wurde, nur um zu erfahren, dass seine Einheit aufgerieben war. Einer der Toten im Schützengraben ist Hetties Mann. In ihrem Traum berührt der Deserteur das Gesicht ihres Mannes und beginnt zu weinen. Während sie zusieht, verwandelt sich die Trauer des Deserteurs in Wut, er nimmt sein Gewehr hoch, springt über den Stacheldraht, der den Schützengraben begrenzt, und rennt durchs Niemandsland auf den Feind zu, das Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett im Anschlag.
    Sollte D’Angelo Hetties Erschrecken über seine Erscheinung bemerken, so zeigt er es nicht, sondern drängt an ihr vorbei in die Küche direkt zu der Bettcouch. Er wirft den langen, schwarzen Mantel ab und kniet neben dem Mädchen nieder, das nun mit weitaufgerissenen Augen von Krämpfen geschüttelt wird. Der Priester zieht die Bettdecke zurück und knöpft das Flanellnachthemd vom Hals bis zum Nabel auf. Aus einer seiner Taschen holt er einen kleinen Knochen hervor, aus der anderen ein Kruzifix, das im Schnittpunkt von Querbalken und Stamm mit einem roten Edelstein verziert ist. Er legt das Kruzifix, den Knochen und seine Hände auf die sich hebende und senkende Brust des Mädchens und neigt den Kopf zum Gebet.
    Dylan beobachtet das alles wie von einem Schneetunnel aus. Ganz weit weg hört er seine Mutter schluchzen. Eine lange Zeit gibt es nur den Priester und seine
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