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Mystic

Mystic

Titel: Mystic
Autoren: Mark T. Sullivan
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legte den Gang ein und fuhr auf die Brücke zu. Er hatte fast vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen und brauchte dringend ein Bett. Die Bohlen von Lawtons überdachter Brücke krachten, knarrten und rumpelten unter den Reifen seines Wagens. Er bemerkte eine rasche Bewegung hoch oben in den Dachbalken der Brücke, verlangsamte sein Tempo und entdeckte zu seiner Überraschung eine große Eule, die auf ihn herunterstarrte. Der Vogel zwinkerte mit den Augen, plusterte sein Gefieder auf und öffnete den ebenholzschwarzen Schnabel. Dann schwang er sich vom Balken herab und fiel wie eine Bombe auf die Windschutzscheibe des Geländewagens zu. Er streckte die Krallen vor, rollte die Zunge ein und schnappte mit dem Schnabel.
    Gallagher trat heftig auf die Bremse. Da war ein schrilles Knirschen, wie wenn ein Diamant Glas schnitte, als die Krallen des Vogels gegen die Windschutzscheibe schlugen.
    Dieses beunruhigende Ereignis beschäftigte ihn noch, lange nachdem er die Brücke längst hinter sich gelassen hatte und nach links auf die Hauptstraße in Richtung des Stadtzentrums von Lawton eingebogen war. Die sogenannte »Südstadt« von Lawton ist ein Wohngebiet von fast planmäßiger Putzigkeit. Alle Häuser in diesem aus zwölf Blocks bestehenden Bezirk haben entweder Backsteinfassaden mit schwarzen Fensterläden oder sind aus weißem Holz mit grünen Fensterläden, viele davon sehr schön restaurierte Gebäude aus dem 19 . Jahrhundert. Alle zehn Meter glimmt eine gusseiserne Laterne. Alle zwanzig Meter steht eine gusseiserne Bank neben einem Blumenkübel.
    Die Norman-Rockwell-Fassade verläuft dort, wo sich die Hauptstraße teilt und um einen hektargroßen Dorfanger herumführt. Ein Staketenzaun im Kolonialstil umgibt die Grünanlage. Die Mitte der Wiesenfläche ist von einem blendend weiß gestrichenen Pavillon mit grünen Verzierungen markiert. Zu beiden Seiten des Parks stehen weitere restaurierte Gebäude, darunter die Bücherei, ein kleines Theater und »The Lawton House«, eine Luxusherberge, die der
Conde Nast Traveller
eines der besten Hotels von New England genannt hat.
    Hinter dem Anger liegt Lawtons aufstrebendes Einkaufszentrum, wo rotgepflasterte Wege den Touristen zu Kunstgalerien, verschiedenen Läden, Buchhandlungen und modischen Restaurants führen.
    An jenem Tag lagen Lawtons Straßen jedoch beinahe ausgestorben da. Touristen und Einwohner waren gleichermaßen vom Sturm in die Häuser getrieben worden. Die wenigen mutigen Männer und Frauen, die sich in das raue Wetter gewagt hatten, liefen gebeugt, mit blassen, verkniffenen Gesichtern durch den peitschenden, kalten Regen.
    Zwei Meilen weiter nördlich erreichte er den »Otterslide General Store«, die einzige belebte Stelle auf der nur dünn besiedelten Nordseite von Lawton, ein langes, schindelgedecktes Gebäude, wo es T-Shirts und Ahornsirup für die Fremden zu kaufen gab und Artikel des täglichen Bedarfs für die Einheimischen, die keine Lust hatten, in die Stadt zu fahren.
    Gallagher bog auf den kiesbedeckten Parkplatz ein, stellte den Motor ab und musterte sich kurz im Rückspiegel. Ein Meter neunzig groß, knapp hundert Kilo schwer, einigermaßen in Form. Kurzgeschnittenes, kupferfarbenes Haar. Helle Sommersprossen. Ein freundlicher, selbstbewusster Typ, den nicht wenige Frauen attraktiv gefunden hatten, inzwischen gealtert, mit Falten im Gesicht und graumelierten Haaren, vor allem an den Schläfen. Tränensäcke hingen unter tiefliegenden, blutunterlaufenen grünen Augen, die zu dem zerstreuten Blick zusammengekniffen waren, den Soldaten den »Tausend-Yard-Blick« nennen.
    »Wozu, Pat?«, fragte er sein Spiegelbild. »Verdammt, wozu noch?«
    So saß Gallagher mehrere Minuten lang hilflos da und sah zu, wie die Scheibenwischer des Explorers den Kampf gegen den strömenden Regen verloren, bis er endlich die Energie aufbrachte, den Reißverschluss seiner gewachsten Jacke hochzuziehen, seine Yankee-Baseballmütze tief in die Stirn zu drücken und aus dem Wagen zu steigen. Nach der sechsstündigen Fahrt von Manhattan bis hier herauf fühlten sich seine Beine kalt und prickelnd taub an.
    Nachdem er eine ganze Weile so im Regen gestanden hatte, war endlich so viel Gefühl in seine Beine zurückgekehrt, dass er unsicher auf den Laden zugehen konnte. Die Tür öffnete sich, und ein Mann und eine Frau mittleren Alters in gelben Öljacken kamen heraus. Ihr Gespräch verstummte abrupt, als sie Gallagher wahrnahmen, und ein deutlicher Ausdruck des
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