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Mystic

Mystic

Titel: Mystic
Autoren: Mark T. Sullivan
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Schwester am Ende einer glitzernd weißen Röhre und das unterdrückte Weinen seiner Mutter.
    Plötzlich windet sich Annas Oberkörper im Krampf und bäumt sich auf. Ihre Augen rollen in den Höhlen. Die Zunge kommt in wilden Zuckungen aus ihrem Mund. Ein rasselndes Stöhnen entringt sich ihrem Inneren.
    »O Gott, nein!«, schreit Hettie. Sie schlägt die Hände vors Gesicht und bricht am Türrahmen zusammen.
    Der Priester beugt sich über Anna. Seine Finger krümmen sich und zittern. Sein Kinnladen bewegt sich fieberhaft, aber er sagt nichts. Seine Schultern zucken wie die eines Ringers im Clinch. Eine eisige Zunge flattert durch Dylans Brust. Jetzt wird der Priester selbst von Schüttelfrost und Schweißausbrüchen überwältigt. Mit einem dumpfen Klageton lässt er los. Dann schießt eine brackige, gelbliche Flüssigkeit wie dünner Haferbrei aus Annas Mund. Als dies geschieht, schiebt der Priester eine Hand unter den Rücken des Mädchens und rollt es auf die Seite, damit es das Erbrochene nicht einatmet. Die Krämpfe und das Erbrechen halten einige Minuten an, in denen Dylan, der außerhalb von Zeit und Raum erstarrt ist, das Gefühl hat, einen Blick auf einen namenlosen Ort zwischen zwei Welten zu werfen. So plötzlich wie sie begannen, hören Annas Krämpfe wieder auf, und sie sinkt ruhig auf das Sofa zurück. Einen Moment ist sie ganz still. Kein Atmen. Kein Husten. Kein Stöhnen. Eine unheimliche Stille.
    Dann beginnt Anna, lebhaft zu atmen, flach zunächst, doch ohne Anstrengung; und dann stärker, tiefer und trocken. Ihre Augenlider flattern und öffnen sich, ihre Blicke gleiten haltlos und voller Angst über das unbekannte Bild des bleichen Priesters, der über ihr betet; dann wendet sie sich Dylan zu und lächelt freundlich, als sie ihn erkennt, bevor ihre Augen weiter zur Tür wandern.
    »Mama?«, flüstert Anna.
    Hettie hebt verwundert den Kopf. Sie drängt sich hastig an dem Jungen vorbei. Pater D’Angelo steht unsicher auf, um die Frau ihre Tochter umarmen zu lassen. Der kalte, weiße Tunnel um Dylan herum schmilzt. Dylan geht mit ausgestreckter Hand auf den Priester zu, will ihn berühren, als ob schon diese Berührung alle Wunden des vergangenen Jahres heilen könnte.
    Doch bevor der Junge bei ihm ist, stolpert Pater D’Angelo, schlägt gegen den Küchentisch und fällt auf die Knie. In dem anschließenden Hustenanfall krümmt sich sein Körper, bis er mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich zusammenbricht.
    Dylan und seine Mutter drehen den Priester herum und versuchen, ihn in eine sitzende Stellung zu bringen. Pater D’Angelos Stirn glüht vor Fieber, doch seine Finger fühlen sich kalt an. Sein Körper zuckt. Dylan spürt, wie die Kälte die Handgelenke des Priesters erreicht und zum Ellenbogen hinaufkriecht. In den Augen von Pater D’Angelo steht die nackte Angst, und der Junge weiß, dass der Priester stirbt.
    Dylan nimmt des Priesters knochige Hand. »Fürchten Sie sich nicht«, flüstert er sanft. »Sie haben meine Schwester gerettet. Sie kommen bestimmt ins Paradies.«
    Bei diesen Worten wird das Entsetzen in den Augen des Priesters noch größer. Er schüttelt heftig den Kopf, ringt nach Luft und krächzt Worte, die der Junge nicht verstehen kann.
    »Was sagen Sie, Pater?«, fragt Dylan und hält sein Ohr dicht an des Priesters Mund.
    D’Angelo kämpft gegen das Wasser, das langsam seine Brust füllt. Noch einmal schafft er es, Luft zu holen, dann keucht er: »Bete für mich, Junge. Ich bin einer von den Verdammten!«

2
    Freitag, 9. Mai 1998
    Kurz vor Anbruch dieses Tages wechselte der Wind seine Richtung und Stärke und verwandelte sich von einer mäßigen südöstlichen Brise in einen erbarmungslosen, unberechenbaren Sturm aus Nord-Nordwest. Die Temperatur sank bis zum Gefrierpunkt. Schneeregen, mit Graupel vermischt, ging über den Green Mountains nieder. Die abnormen Wetterbedingungen markierten in durchaus sinnfälliger Weise den Auftakt zu drei der grausamsten Wochen in der Geschichte Vermonts.
    Lawton Mountain bekam den ersten Ansturm der Wetterfront ab. In den oberen Höhenlagen fielen Hagel und Eisregen und bedeckten die erstarrten Bäume mit einer Eisschicht. Als der Sturm seine volle Kraft erreichte, barsten die Stämme unter ihren Kronen und sackten zusammen wie Hunderte gehängter Männer.
    Weiter unten an den Berghängen füllte kalter Regen einen Gebirgsbach, der auf weniger als fünf Meilen dreitausend Fuß bergab in die Talmulde von Lawton stürzte. Weitere
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