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Mystic

Mystic

Titel: Mystic
Autoren: Mark T. Sullivan
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angeschwollene Rinnsale ergossen sich in den reißenden Bach auf seiner wilden Fahrt ins Tal. Dort, wo sich sein enges Bett zum Bluekill River weitete, einem der bekanntesten Bach- und Braunforellenflüsse im Osten der USA , toste der Fluss kupferfarben und weißschäumend an Zuckerahornbäumen vorbei, die die Wiesen säumten, auf denen schwarzbunte Kühe den ersten Frühlingsklee rupften.
    Der Fluss unterspülte seine Ufer in Sichtweite der halbfertigen Zweithäuser der reichen Flachlandbewohner, die dabei waren, Lawton zu ihrem neuesten Wochenendrefugium zu machen; er brauste an Lawtons altem Mühlwerk vorbei, das jetzt Designer-Geschäfte und teure Antiquitätenläden beherbergte, bevor er unter einer rotgedeckten Brücke hindurchschoss und wieder in den Wald hinein- und an einer Wiese vorbeidonnerte, wo Patrick Gallagher in seinem schwarzen Ford Explorer saß und vor sich hin grübelte.
    Seine Augen folgten dem wilden Tosen des Flusses: Gewimmel zahlloser ineinander verknäulter Schlangen, ekstatisch zuckender Frauenkörper, ein Strudel, der ihn ins Unbekannte zog. Flüsse waren für Gallagher immer schon ein Ort voller Geheimnis und Trost gewesen. Flüsse erschienen ihm wie Mythen, mit der Fähigkeit, uns über uns selbst hinauszutragen.
     
    Gallaghers Handy klingelte. Es klingelte noch einmal. Und zum dritten Mal. Und dann zum vierten Mal, bevor er abnahm.
    »Pat? Bist du schon in Lawton?«
    »Morgen, Jerry«, sagte er leicht genervt. »Ja, und ich bin gesund und munter nach der langen Nachtfahrt. Danke der Nachfrage.«
    Gallaghers bester Freund und Kollege, Jerry Matthews, raunzte frustriert. »Ist viel schiefgelaufen in letzter Zeit, Kumpel, aber ich dachte mir, dass du noch Auto fahren kannst.«
    »Ich kann das Ortsschild von Lawton und die hübsche kleine überdachte Brücke an der Einfahrt gut von hier aus sehen«, antwortete Gallagher.
    »Eine überdachte Brücke?«, schnaufte Jerry. »Das heißt, es gibt einen Fluss dort oben.«
    »Das heißt es normalerweise.«
    »Du bist doch ein Arsch«, rief Matthews erbost. »Von einem Fluss hast du mir nichts erzählt. Du hast nur von Vermont gesprochen. Von einem Film über diesen Pater D’Angelo, der heiliggesprochen werden soll. Von einem Fluss war nie die Rede.«
    »Der Bluekill River fließt eben zufällig hier vorbei, Jerry.«
    »Quatsch!«, brüllte der zurück. »Du hast im letzten Jahr drei Projekte versaut, weil du andauernd in irgendwelchen Flüssen gestanden hast wie ein Idiot, der sich durch Angeln seinen Platz im Irrenhaus verdienen will. Wir müssen in drei Monaten einen Dokumentarfilm abliefern, Pat. Drei Monate. Du kannst jetzt nicht fischen. Du musst jetzt arbeiten, oder es ist aus mit unserer Partnerschaft. Verstehst du? Aus!«
    Der Himmel wirkte schlackig, aschfarben. Der Fluss sah verdammt kalt aus. »Gehst du morgen zur Hochzeit?«, fragte Gallagher.
    »O Mann, ich hab dir schon tausendmal gesagt, hak das ab, vergiss Emily«, stöhnte Jerry. »Molly Francis vom Discovery Channel sagt, sie geben uns keinen Pfennig mehr, wenn wir diesen Film nicht pünktlich abliefern. Dick Howard von
Geographic
ruft nicht mal mehr zurück, wenn ich ihm eine Nachricht hinterlasse. Ein abgeschlossenes Projekt brauchen wir, Pat! Egal, was für eins!«
    »Gehst du hin oder nicht?«, fragte Gallagher noch einmal.
    »Ja, ich gehe hin«, sagte Jerry ungeduldig. »Eine alte Freundin hat mich zu ihrer Hochzeit eingeladen, da gehe ich eben hin. Also ich mach jetzt besser Schluss. Ich soll morgen Nachmittag um vier in Charleston in der Kirche sein. Ich muss bald zum Flughafen.«
    Gallagher fiel gegen das Lenkrad. Nebelschwaden zogen unter der Brücke durch und verweilten über dem Fluss. »Kirche?«
    Jerrys Stimme wurde eine Spur weicher. »Ja. Ist schon komisch, was?«
    »Nein«, meinte Gallagher. »Das Komische ist, dass ich morgen, an demselben Tag, an dem meine Exfrau heiratet, kaum ein Jahr nachdem sie mich verlassen hat, vierzig werde.«
    »Beschissen, was? Aber verdammt nochmal, den Besten von uns geht’s mal dreckig. Wir kommen weinend zur Welt, werden auf unansehnliche Weise alt und geben den Löffel ab.«
    »Und was kommt dann?«
    »Das ist das große Geheimnis«, meinte Jerry. »Mach dich an die Arbeit, Pat. Um unser beider willen.«
    Es klickte in der Leitung. Der Regen fiel jetzt in dichten Schleiern, und der Fluss, der von Ufer zu Ufer ein reißender Strom geworden war, schichtete weiße Schaumfetzen übereinander. Gallagher drehte den Zündschlüssel um,
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