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Lucy

Lucy

Titel: Lucy
Autoren: Laurence Gonzales
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    Als Jenny aufwachte, donnerte es. Seltsam, kein Blitz, dachte sie und tastete im Dunkeln nach der Blechdose mit den Streichhölzern, die auf der Munitionskiste neben ihrem Bett lag. Sie nahm eins heraus und riss es an der Kiste an. Die Flamme flackerte rötlich, dann gelb, und schwefliger Rauch stieg auf. Neugeborene Schatten tanzten an den Wänden der Hütte. Jenny hielt das Streichholz an den Docht einer Kerze, und wie eine bläulich-gelbe Blume wuchs Licht daraus hervor. Rauch hing in der noch immer feuchten Luft.
    Der Hüttenraum wirkte kahl und vollgestopft zugleich. Die Wände waren aus ungestrichenen Brettern, der Fußboden aus verzogenem Sperrholz. An einer Seite stand ein primitiver Schreibtisch mit einer alten Tür als Platte, und darüber klebten ein paar Fotos an der Wand: ihre Mutter zu Hause in der Nähe von Chicago. Schnappschüsse von den Bonobos. Ihre Freundin Donna mit den Bonobos im Zoo.
    Jenny schwang die Beine aus dem Bett und lauschte. Sie hatte den Regen die ganze Nacht lang rauschen gehört. Aber jetzt hatte sich noch ein anderes Geräusch eingeschlichen. Sie zog ihre Stiefel an und stand einen Augenblick lang nur da in dem gelben Licht, groß, schlank und braun gebrannt. Dann fuhr sie sich mit den Händen durch ihr rotblondes Haar und band es schnell am Hinterkopf zusammen.
    Da war es wieder, das Geräusch: Donner. Und jetzt nahm sie auch die metallischen Untertöne wahr, als das Echo des Knallens von den Bergen widerhallte. Je wacher Jenny wurde, desto |6| deutlicher erkannte sie, dass das, was sie da hörte, Geschütze waren. Große Geschütze. Die kongolesischen Rebellen feuerten Panzerfäuste ab. Jennys Aufenthalt hier war stets ein Risiko für sie gewesen, das sie jedoch bewusst eingegangen war, weil die Erforschung der prachtvollen hiesigen Menschenaffen, Bonobos genannt, sie so in ihren Bann gezogen hatte. Jahr um Jahr war sie trotz der Gefahren immer wieder in den Kongo gekommen. Über anderthalb Jahrzehnte lang waren die Kämpfe aufgeflammt, abgeklungen und erneut aufgeflammt. Doch jetzt war der Bürgerkrieg offenbar tatsächlich ausgebrochen, und sie musste sofort hier weg. Ihr alter Freund David Meece von der britischen Botschaft in Kinshasa hatte sie mit unmissverständlichen Worten gewarnt: Du bist wertlos für sie, und deshalb werden sie dich töten. Du musst so schnell wie möglich zum Fluss, wenn die Schießerei losgeht.
    Ein Zischen in der Luft. Und wieder das metallische Donnern. Die Erschütterung ließ die Töpfe und Teller über ihrem Campingkocher erzittern. Jenny hörte, dass das Feuer aus einer anderen Richtung erwidert wurde. Wenn sie nur länger vorgewarnt gewesen wäre, eine Stunde, oder auch nur eine halbe. Aber die Rebellen waren schon ganz in ihrer Nähe. Sie schnappte sich eine Taschenlampe, die Machete und den Rucksack, den sie immer für den Aufbruch bereithielt. Eine Flasche Wasser, die schon halb leer war, trank sie mit einem einzigen langen, blubbernden Zug aus, ehe sie, noch nach Luft schnappend, nach einer vollen Flasche griff und sie an ihrem Gürtel befestigte.
    Dann trat sie aus der Hütte auf die Lichtung hinaus. Es war riskant, nachts in den Urwald zu gehen, das wusste sie, aber Bleiben wäre noch schlimmer. Sie warf einen Blick zurück auf ihre Hütte und Traurigkeit überkam sie. Doch sie musste sich |7| beeilen. Sie drehte sich um und rannte in den Urwald hinein. Das Wasser in ihrem Magen schwappte unangenehm.
    Es hatte aufgehört zu regnen. Der Dschungel vor ihr war schwarz und glitzerte im Schein der Taschenlampe. Sie wollte zumindest den Versuch machen, zu dem britischen Forscher Donald Stone durchzukommen. Sein Beobachtungsposten lag auf dem Weg zum Fluss, und die wenigen Male, die sie ihn getroffen hatte, war er ziemlich freundlich gewesen. Ihre Camps lagen allerdings zu weit voneinander entfernt, als dass sie einfach mal auf einen Besuch hätte vorbeischauen können. Sie wusste nur, dass auch Donald Stone die Bonobos erforschte, an einer Zusammenarbeit aber nicht interessiert zu sein schien. Dennoch hatte Jenny beschlossen, zu tun, was sie konnte, falls er je ihre Hilfe brauchen sollte. Sie hatte gerüchteweise gehört, dass er eine Tochter hatte. Ob das stimmte? Nun, das hier war jedenfalls kein Ort für ein Kind.
    Während sie auf vertrauten Pfaden durch den Urwald lief, hörte sie wieder den dumpfen Knall eines Granatwerfers, das Zischen des Geschosses und das stählerne Krachen einer weiteren Explosion östlich von ihr. Rauch lag
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