Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lucy

Lucy

Titel: Lucy
Autoren: Laurence Gonzales
Vom Netzwerk:
dunklen Dschungel hinein. Sie wollte schon laut rufen, erinnerte sich aber noch rechtzeitig an die Soldaten. Wie hatte das Mädchen einfach verschwinden können? War sie gekidnappt worden? Nein, wenn die Rebellen hier gewesen wären, hätten sie sie beide umgebracht. Dann hörte Jenny ein Rascheln, und als sie herumfuhr, sah sie das Mädchen aus dem Urwald kommen, mit einem Berg Früchte und Beeren vor sich im T-Shirt , das sie zu einem Tragebeutel umfunktioniert hatte.
    Sie trat auf die Lichtung, als wäre Jenny gar nicht da, und legte die Früchte auf den Boden. Dann setzte sie sich daneben und nahm sich eine Avocado. Sie ritzte die Haut mit dem Fingernagel auf, teilte die Frucht mit einer raschen Drehbewegung in zwei Hälften und begann mit zwei Fingern das grüne Fruchtfleisch herauszulöffeln und zu essen. Zwischen den Bissen schmierte sie sich immer wieder etwas Fruchtfleisch auf die nackten Arme, so als wäre es eine Bodylotion. Jenny sah ihr fasziniert zu. Plötzlich schien das Mädchen sie zum ersten Mal zu bemerken. Sie hörte auf zu kauen und sah Jenny an. Dann griff sie nach einer Handvoll brauner Feigen und hielt sie ihr hin. Jenny ging quer über die Lichtung und nahm sie. Das Mädchen betrachtete sie aufmerksam und wartete. Jenny biss in eine der Feigen. Sie war innen rosa.
    »Mmm. Die ist gut.«
    Das Mädchen lächelte sie an und aß weiter.
    |17| »Kannst du sprechen?«
    »Natürlich kann ich sprechen.«
    Jenny atmete erleichtert auf. Jetzt kam ihr die Frage selbst albern vor. »Natürlich. Es ist nur so, dass gestern   …«
    »Gestern ist vergangen. Heute ist alles anders.«
    Jenny setzte sich dem Mädchen gegenüber hin, und eine Weile aßen sie schweigend weiter. »Ich bin übrigens Jenny. Wie heißt du?«
    »Lucy.«
    »Lucy. Das ist ein schöner Name. Und wie alt bist du?«
    »Fünfzehn.«
    »Wie hast du den Angriff überlebt?«
    »Ich habe mich in den Bäumen versteckt.«
    »Du bist Dr.   Stones Tochter, nicht? Bist du hier aufgewachsen?«
    »Ja.«
    »Es tut mir so leid um deinen Vater.«
    »Der Tod ist etwas Natürliches, aber ihrer war es nicht. Menschen bringen Leid, wohin sie auch kommen.«
    »Hat dein Vater dir diese Ideen beigebracht?«
    »Er hat mir alles beigebracht.«
    »Und was ist mit deiner Mutter? Wo ist sie?«
    »Sie ist auch gestorben.«
    Jenny wollte schon die nächste Frage stellen, als Lucy plötzlich mit Essen innehielt und die Nase hob. »Der Wind hat sich gedreht«, sagte sie. »Ich kann den Fluss riechen. Es ist jetzt nicht mehr weit. Gehen wir.«
    Auf ihrem Weg durch den Urwald schöpfte Jenny Zuversicht aus dem Selbstvertrauen des Mädchens. Lucy flog nur so dahin, und Jenny musste rennen, um Schritt zu halten. Mit ihrer Eile schreckten sie ein Fasanenpaar auf, das erbost gackernd in den Wald hineinfloh. Plötzlich hob Lucy warnend |18| die Hand. Jenny sah zuerst keinen Grund dafür, stehen zu bleiben. Bis aus den Bäumen eine Schlange hervorschoss, die so dick war wie ihr Bein und sich quer über den Pfad schlängelte. Als sie weg war, wollte Jenny fragen, woher Lucy schon vor dem Auftauchen der Schlange gewusst hatte, dass sie beide besser stehen blieben. Doch das Mädchen war bereits ein ganzes Stück weiter auf dem Pfad. Als sie dem Fluss näher kamen, konnte auch Jenny ihn riechen, und auf einmal gab es viel mehr Fliegen und Moskitos. Der Geruch des Flusses war unverkennbar, ein Gemisch von Düften und Schmutzwasser, von Leben und Tod. Die Bäumen standen jetzt viel dichter beieinander und ihre Stämme waren von Ranken und Kletterpflanzen umschlungen. Riesige weiße Blumen glänzten im Dunkel auf, zogen das wenige vorhandene Licht auf sich und strahlten es leuchtend wie Spitzengewebe wieder ab.
    Schließlich erblickten sie die schwarze, metallisch glänzende Oberfläche des Wassers. Die Luft war stickig von Hitze und Feuchtigkeit. Sie beschleunigten ihre Schritte auf der letzten Wegstrecke noch einmal. Dann hob Lucy wieder die Hand, und sie blieben einen Moment stehen, um den Anblick des Kongo in sich aufzunehmen. Nilpferde suhlten sich im seichten Wasser und Krokodile sonnten sich auf dem silbrigen Sand. Träge floss das Wasser des Stromes dahin und umspülte sanft die vielen kleinen Inseln voll üppiger Vegetation. Von rechts kam eine Schar Kormorane heran, flog ein Stück den Fluss entlang und ließ sich dann auf der Wasseroberfläche nieder, die in Hunderte glitzernde Strudel aufbrach und sich dann allmählich wieder zu glänzender Schwärze schloss.
    »Hier
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher