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Lucy

Lucy

Titel: Lucy
Autoren: Laurence Gonzales
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Pillen heraus. Er schüttete sich eine in die Hand und hielt sie Jenny hin. »Gib ihr die. Davon schläft sie ein.«
    »Was ist das?«
    »Bloß Valium. Fünf Milligramm. Das verträgt sie schon.« Er reichte Jenny das Fläschchen. »Hier, behalt sie. Ich kann jederzeit wieder welche bekommen.«
    Jenny überredete Lucy, die Pille zu nehmen, indem sie ihr erklärte, dass sie sich dann schon bald besser fühlen würde und dass sie jetzt wirklich einsteigen müssten. Als auf dem Gelände des Flughafens eine Granate explodierte, setzte sich Lucy schließlich wieder in Bewegung und stieg mit ihnen die Rampe hinauf in das dunkle Innere des Flugzeugs. Sie bekamen die letzten drei Plätze. Die Sitze aus Rohrgestänge mit Segeltuchlehnen waren klein und unbequem und eigentlich für Truppentransporte gedacht. Die Laderampe war noch nicht ganz geschlossen, da rollte das Flugzeug bereits an. Und alle Passagiere jubelten, als die Räder des Fahrgestells endlich von der Startbahn abhoben.
    Lucy schloss die Augen und presste die Hände auf die Ohren, doch nach einer halben Stunde Flug schlief sie bereits tief und fest. Jenny betrachtete das schlafende Mädchen eine Weile, dann fragte sie David: »Was meinst du? Was sollen wir mit ihr machen?«
    »Das weiß ich wirklich nicht.«
    »Wir können sie doch nicht einfach in ein Waisenhaus stecken.«
    »Welche Wahl haben wir denn?«
    |25| »Ich weiß auch nicht. Aber ich habe sie herausgeholt. Und jetzt fühle ich mich irgendwie für sie verantwortlich. Ich könnte versuchen, ihre Familie zu finden.«
    »Sie sagt doch, sie hat keine Familie.«
    »Sie sagte, ihre Mutter sei tot, aber es gibt sicher noch irgendwen. Menschen kommen doch nicht einfach so aus dem Nichts.«
    »Nun, Stone hatte keine lebenden Angehörigen mehr, das weiß ich zufällig. Er war der letzte seiner Linie. Die Familie hatte mal Geld, war aber zum Schluss ziemlich heruntergekommen. Und falls das Mädchen Verwandte mütterlicherseits haben sollte, meinst du, die nehmen sie auf?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte Jenny. »Ich will zurück nach Hause.«
    »Nun, mitnehmen kannst du sie jedenfalls nicht.«
    »Wenn du das mit ihrem Pass regelst, könnte ich das schon.«
    »Das würdest du tun? Du würdest sie mit nach Hause nehmen?«
    »Na ja, nur für ein paar Wochen. Bis ich ihre Verwandten ausfindig gemacht habe.«
    »Du kennst sie doch gar nicht, Jenny. Und außerdem weiß ich nicht, ob ich mit ihrem Pass etwas machen kann. Die britischen Behörden sind furchtbar kleinlich geworden.«
    Jenny starrte auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. »Ach, ich kann jetzt nicht vernünftig denken. Ich muss erst mal ein bisschen schlafen.« Damit legte sie sich ihr Halstuch über die Augen und schlief auf der Stelle ein.
    Zwei Stunden später wachten beide, Jenny und Lucy, mit verquollenen Augen wieder auf. Jenny gähnte und tätschelte Lucy die Hand. »Siehst du? Es ist alles in Ordnung.«
    Lucy sah sich vorsichtig um. »Fliegen wir?«, fragte sie Jenny dann flüsternd, als wäre es ein Geheimnis.
    |26| »Ja.« Jenny zeigte aus dem kleinen Fenster. »Schau.«
    »Oh. Oh. Ich habe Angst.«
    »Das musst du nicht. Wir sind vollkommen sicher. Lucy, du zitterst ja.«
    »Darf ich dir eine Geschichte erzählen? Das beruhigt mich immer. Papa ließ mich immer eine Geschichte erzählen, wenn die Großkatzen kamen und ich Angst bekam.«
    »Wirklich? Ja, natürlich kannst du das tun. David, Lucy will uns eine Geschichte erzählen.«
    »Großartig. Der Film auf diesem Flug taugt sowieso nichts.«
    »Wie bitte?«
    »War nur ein Witz. Dann also los. Erzähl uns eine Geschichte.«
    »Hmm.« Lucy neigte nachdenklich den Kopf, dann begann sie:
    Im Meer, mein allerliebster Liebling, lebte einmal ein Wal, und der fraß Fische. Er fraß den Mondfisch, den Thunfisch und den Tintenfisch, die Qualle und die Scholle, die Makrele und die Garnele, die Sirene und die Muräne, und auch den quirligen, wirbligen Aal fraß der Wal. Alle Fische, die er im ganzen weiten Meer finden konnte, fraß er mit seinem Maul   – so! Bis schließlich im ganzen weiten Meer nur ein einziger kleiner Fisch übrig blieb, und das war ein kleiner Schlaufisch, der hinter dem rechten Ohr des Wals schwamm, um allen Gefahren aus dem Weg zu sein. Da stellte sich der Wal auf die Schwanzflosse und sagte: »Ich habe Hunger.«
    Und der kleine Schlaufisch sagte leise und schlau: »Edler und großmütiger Meeressäuger, hast du schon einmal Mensch probiert?«
    Eine Stunde lang rezitierte
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