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Lucy

Lucy

Titel: Lucy
Autoren: Laurence Gonzales
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Lucy auswendig Geschichten und Gedichte, und mit der Zeit sammelten sich auch andere Passagiere um sie, um zuzuhören. Zu guter Letzt sagte sie |27| sogar noch Lewis Carrolls Nonsens-Gedicht
Jabberwocky
auf. Dann verkündete sie übergangslos, dass sie nun müde sei, und schlief sofort wieder ein.
    Jenny betrachtete die schlafende Lucy in ihren schmutzigen Kleidern.
    »Bist du dir auch ganz sicher?«, fragte David. »Ich meine, dass du sie mit nach Hause nehmen willst?«
    »Nein. Keineswegs. Aber als ich sie dort im Dschungel fand, verängstigt, allein   … ihr Vater erschossen   … ich weiß nicht. Es war einfach schrecklich, David. Und jetzt das: Sie rezitiert Shakespeare und Kipling. Was soll ich denn da machen? Sie sich selbst überlassen?«
    »Die meisten Leute würden es tun.«
    »Ich glaube nicht, dass ich das könnte. Sie erinnert mich an die Mädchen in dem Heim, in dem ich zu Hause ab und zu ehrenamtlich arbeite. Ich würde mich immer fragen, was aus ihr geworden ist, weißt du.«
    David schien einen Augenblick lang in Gedanken versunken. »Wenn ich so drüber nachdenke«, sagte er dann, »fällt mir schon jemand ein, der uns mit diesem Pass helfen könnte.«
    »Wer denn?«
    »Zwei Typen vom Special Air Service, die mir noch einen ziemlich großen Gefallen schulden. Ich habe sie mal aus einem kongolesischen Gefängnis herausgeholt.«
    »Ich glaube, daran erinnere ich mich.«
    »Nun, die beiden waren schon richtige Schlägertypen und gehörten, offen gesagt, eigentlich auch ins Gefängnis, wenn du mich fragst. Aber als wir sie draußen hatten, betonten sie ausdrücklich, dass ich mich jederzeit an sie wenden könnte, wenn ich mal irgendwas brauche   – je unorthodoxer, desto besser. Und ich glaube, das meinten sie auch wirklich ernst.«
    |28| Heathrow wimmelte nur so von afrikanischen Flüchtlingen, viele darunter in Stammestracht, und haufenweise geflohenen Geschäftsleuten, die lautstark auf einer Vorzugsbehandlung bestanden. David machte sich das Durcheinander zunutze und schob Jenny und Lucy an den Kopf der Schlange. Er hielt dem Beamten sofort seinen Diplomatenpass unter die Nase, worauf der nur noch einen flüchtigen Blick auf Jenny und Lucy warf und sie durchwinkte.
    Nachdem sie auch die Zollabfertigung sicher hinter sich gebracht hatten, telefonierte David, dann holte ein Wagen sie ab und fuhr sie zu einer Wohnadresse in London namens Heygate Estate. Der Wagen hielt vor einem hohen Betonwohnblock, in dessen zerbrochenen Fenstern sich zerrissene Gardinen blähten. Das Apartment, das sie betraten, war sogar noch scheußlicher, als Jenny es sich vorgestellt hatte.
    »Tut mir leid«, sagte David. »Aber hier arbeiten diese Leute nun mal, aus Gründen der Sicherheit. Ich verspreche, dass wir euch hier so schnell wie möglich herausholen.« Jenny sah sich in dem kleinen Apartment um und stellte fest, dass Badewanne und Dusche nicht zu benutzen waren. Aber die Toilette funktionierte glücklicherweise.
    Ein paar Stunden später kam ein Mann von massiger, leicht gebeugter Gestalt, der mit seinem billigen Anzug und dem abgetragenen Trenchcoat genauso ein städtischer Angestellter hätte sein können. »Geben Sie mir den Pass«, sagte er zu David. Der Mann musterte den alten Ausweis einen Augenblick und sah dann Lucy an, die an die Wand gelehnt auf dem Boden hockte, die Arme um die schmutzigen Knie geschlungen. Er ging zu ihr hinüber und kniete sich neben sie.
    »Nun bist du also hier«, sagte er. »Hast sicher ’ne Menge durchgemacht, hm?« Lucy schwieg. »Hat’s dir gleich die Sprache verschlagen, hm? Na, schon gut.« Er griff in seine Tasche, |29| zog einen kleinen bunten Plastikbeutel hervor und bot ihn Lucy an. Doch sie starrte ihn nur an. »Nimm ruhig. Das sind Gummibärchen. Bin selbst ein großer Gummibärchen-Fan.« Schließlich nahm Lucy den Beutel und hielt ihn in der Hand.
    Der Mann richtete sich lächelnd wieder auf. Dann zog er einen der Holzstühle mit einem kratzenden Geräusch über den Fußboden und stellte ihn an eine Wand. »Setz dich da bitte hin.« Jenny wischte Lucy mit einem feuchten Tuch den Schmutz aus dem Gesicht und versuchte, so gut es ging, ihr Haar zu glätten. Dann machte der Mann mit einer Digitalkamera ein Foto von Lucy und ging wieder.
    Auch David ging, kam aber kurz darauf mit chinesischem Essen aus einem Takeaway zurück. Jenny aß hungrig, doch Lucy starrte nur auf ihren Teller. Als Jenny ihr zuredete, doch auch etwas zu essen, fragte Lucy: »Wird mir auch nichts
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